Ein Strandkorb für Oma
Orte gibt als dieses Krankenhaus: Der Ausblick von hier aus ist wirklich grandios, schaut man doch direkt auf die gegenüberliegende Insel Amrum. Und wendet man sich nach rechts, kommt die Südspitze von Sylt in Sicht, und zwischen den Inseln funkelt und glitzert die offene Nordsee. Ein Stückchen weiter hoch stehen Arnes Strandkörbe, dort haben wir gestern das Fest gefeiert.
Neu ist der Schiffssteg mit dem frisch geweißten Holzgeländer, der im kühlen Schutz des Nadelwaldes beginnt und über die Dünen hinaus zum Meer geht. Er endet vor einer festgeschweißten Schranke, auf der ein Blechschild hängt: «Nächste Fähre um :00 Uhr», die Stundenangabe ist verwischt. Darüber prangt das vertraute Emblem des Fährmonopolisten «Wyker Dampfschiff Reederei», links und rechts stehen ein paar frisch geweißte Wartebänke.
Ich bin zu früh, aber das ist ganz angenehm so. Ich setze mich auf eine Bank und schließe die Augen. Es tut gut, ein bisschen Sonne mitzunehmen. Nach und nach kommen mir die Schiffsreisen meines Lebens in den Sinn: die stürmische nach Island, die mit ausgefallener Klimaanlage von Italien nach Griechenland, und die schönste, mit Arne, als er mich mit einem edlen Rennboot auf eine Sandbank mitten im Wattenmeer geschippert hat, wo wir zwei Stühle aufstellten und Bier tranken.
Kurze Zeit später höre ich Schritte, dann fällt ein Schatten auf mich. Ich öffne die Augen. Eine ältere Dame sitzt neben mir. Sie hat einen altmodischen kleinen Koffer auf dem Schoß. In ihrem steifen Kostüm scheint sie einem Kostümfilm aus den Fünfzigern entsprungen zu sein: Das strenge Fräulein Rottenmeier aus der Stadt besucht Heidi auf dem Einödhof. Ihre Augen sind hellblau, sie wirken fast durchsichtig, auf jeden Fall sind sie ungewöhnlich aufmerksam und wach.
«Warten Sie auch auf die Fähre?», erkundigt sie sich freundlich. Sie verbringt offensichtlich viel Zeit an der frischen Luft, braun gebrannt wie sie ist.
«Kann man so sagen.»
Sie nickt und schimpft sofort los: «Ich muss nach Schobüll. Die sind mit der letzten Rate so was von rückfällig, das lasse ich mir nicht mehr bieten. Jetzt fahr ich selber hin und hole mir das Geld persönlich ab.»
Fräulein Rottenmeier hält das Kreuz bemerkenswert gerade. Zusammen mit den hohen Wangenknochen wirkt ihre Haltung sehr aristokratisch und irgendwie auch schön.
«Immer nur Ärger in der Welt», bestätige ich.
Fräulein Rottenmeier nickt melancholisch. «Wem sagen Sie das, ich hätte mich nie mit den Schobüllern einlassen sollen. Immer an der Grenze der Insolvenz, aber ich habe ihnen trotzdem die 10 000 vorgeschossen.» Sie seufzt. «Wahrscheinlich war ich zu gierig, ich wollte mir das Geschäft nicht entgehen lassen.»
«Das ist menschlich», tröste ich sie, ohne auch nur zu ahnen, worum es geht.
«Ist das eine Entschuldigung?», widerspricht sie energisch. «Krieg ist auch menschlich, wenn man so will, deswegen ist er trotzdem schlecht.»
«Ich meinte nur …»
«Sie wollten nur etwas Nettes sagen, ich weiß.»
Wir blinzeln uns einvernehmlich an.
Dann erhebt sich Fräulein Rottenmeier: «Einen Tipp noch, junger Mann …»
«Bitte …»
Sie schüttelt den Kopf: «Das wird heute nichts mehr.»
«Was bitte?»
Sie senkt die Stimme und lächelt mitleidig: «Schauen Sie mal ins Watt: Extremes Niedrigwasser …»
«Ja, wir haben Ebbe.»
«Wie soll die Fähre hier anlegen können? Die kommt heute nicht mehr. Schönen Tag noch, der Herr.» Fräulein Rottenmeier verlässt den Steg mit ihrem Koffer in der Hand, den ihr ein weiß gekleideter Pfleger galant abnimmt. Positiv gedacht hatten Fräulein Rottenmeier und ich ein paar nette Minuten zusammen, wir mochten uns. Das ist mehr, als ich von vielen Menschen sagen kann …
Die Wahrheit ist, hier wird nie ein Schiff anlegen.
Der Steg endet am Strand, und das Wasser ist noch mindestens fünfzig Meter weg. Auf dem Gelände der Kurklinik hat man eine Station für Demenzkranke eingerichtet, zu der Fräulein Rottenmeier vermutlich gehört. Ich habe mal gelesen, dass man in vielen Kliniken Bushaltestellen aufgebaut hat, an denen sich die Patienten täglich treffen. Eine Haltestelle gibt ihrem Warten angeblich einen Sinn und beruhigt sie. Auf Föhr hat man mit dieser Anlegestelle die maritime Variante gewählt, das ist den Patienten von der Insel vertrauter.
Wenn Oma allerdings hier warten würde, wüsste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte.
Ich schließe wieder die Augen.
Bis mich
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