Ein Stueck vom Himmel
dem 1878 bis 1880 mit 300 Metern Drahtseil gesicherten neuen Anstieg auf den Mont Aiguille will man heute diese Schlucht erkennen.
Als wir 1963 zum Mont Aiguille fuhren, hatten wir vorgehabt, diesen – wenn möglich – auf dem Weg Antoine de Villes zu erklettern, um diese historische Erstersteigung nachzuerleben. Doch als wir dann unter der Schlucht standen, gefiel uns diese gar nicht. Ehrlich gesagt: Uns grauste vor dem düsteren Schlund mit den nass glitzernden Felsen. Und außerdem: Wir waren keine so illustre Gesellschaft, für die ein königlicher Leitermacher Leitern aufgestellt hätte.
In der linken Begrenzungswand der Schlucht fanden wir eine schöne Kaminreihe im IV. Schwierigkeitsgrad, aus der gut der Weg der Erstersteiger einzusehen war. Und beim Höherklettern in diesen Kaminen wurde uns dann auch klar, wie viel Müh und Plag das Gangbarmachen der Schlucht mit Seilen und Leitern gekostet hat, denn das konnten keine Leiterchen gewesen sein, wie sie zum Kirschenpflücken im Garten aufgestellt werden. Das waren schwere klobige Holzleitern, die an Seilen aufgezogen werden mussten. Immer mehr bewunderten wir den Bautrupp des königlichen Leitermachers, der diese Arbeit im Steilfels hoch über der Tiefe verrichten musste.
Wer waren diese Arbeiter? Arbeiter aus Dombauhütten, die Tiefblicke gewohnt waren? Jedenfalls war es ihre Aufgabe, vom Wandfuß des »unersteigbaren Berges« bis auf seinen Gipfel einen Weg für Antoine de Ville und seine Gesellschaft anzulegen. Im weniger steilen Gelände unter dem Gipfelplateau haben sie dann keine Leitern mehr gebraucht, sondern Seilsicherungen befestigt.
Als wir am Ausstieg unserer Kamine angelangt waren und zum Ausstieg der Schlucht der Erstersteiger hinüberschauten, glaubten wir fest daran, dass der Wegbau diese Männer nicht bloß in die Gipfelnähe, sondern ganz hinauf auf den Gipfel gebracht hatte. Der König war der Initiator des Unternehmens, sein Kammerherr der Organisator, die wahren Erstersteiger waren aber die Arbeiter.
Für Antoine de Ville war der Gipfel »der herrlichste Ort, den man sich denken kann« – eine große Wiese, auf der er ein Rudel Gämsen antraf, »das von hier nie wegkommen kann« (wie er in seinem Bericht schrieb). Ihm erschien das Gamsrudel auf dem Gipfel als ein Wunder.
Wunderliches bekamen auch wir zu sehen: Am Rande der Wiese stand hoch über dem Abgrund wie bestellt und nicht abgeholt eine alte Scheibtruhe.
Wie kam sie da herauf? Auch der gesicherte Felsensteig ist für Scheibtruhen unbefahrbar.
Warum wurde sie da heraufgebracht? Ganz bestimmt nicht zum Erdetransport für einen Alpengarten. Aber für was?
Wir wollten es genau wissen. »Brouette« heißt (so lasen wir im Wörterbuch) auf Französisch ein Schubkarren. Wir begannen die unter dem Mont Aiguille wohnenden Leute nach dem »Brouette« auf dem Gipfel zu fragen. Doch niemand war jemals oben, niemand wusste etwas von einer Scheibtruhe auf ihm.
Ein alter Opa mit Bart und lustigen Augen hatte aber auch an uns eine Frage: Wie viele Flaschen Rotwein wir bei unserer Gipfelersteigung mitgehabt hätten?
Jahrzehnte sind seither vergangen und noch immer fand ich keine Antwort auf die Frage: »Wie kam die Scheibtruhe auf den Gipfel des Mont Aiguille?«
VON DER FLEISCHBANK
UND VOM TOTENKIRCHL
Der verloste Seilquergang
Noch in der Zeit um 1900 galt die Fleischbank-Ostwand im Wilden Kaiser als eine Wand, die wohl nie von einem Menschen durchstiegen werden würde. Doch 1912 wurde sie von Hans Dülfer mit Werner Schaarschmidt erklettert.
Von Anfang an war die Fleischbank-Ost von einem Nimbus umgeben: In der undurchsteigbar geltenden Wand hatte der Anfang des extremen Kletterns begonnen. Und diesen Nimbus hatte sie noch immer, als ich 1940 mit dem Klettern begann – obwohl damals schon eine Nordwand der Großen Zinne in den Dolomiten und auch schon die berüchtigte Eiger-Nordwand durchstiegen waren. Noch damals galt jeder, der die Fleischbank-Ost gemacht hatte, automatisch auch als einer von den »Guten«.
Ein solcher wollte ich auch werden.
Als wir 1941 am Einstieg der Fleischbank-Ost standen, hing dort eine von Witzbolden angebrachte Warnungstafel: »Achtung! Rutschgefahr!« Schon damals waren die Griffe und Tritte der Wand von den vielen Begehungen glatt poliert und glänzten wie Speckschwarten. Reibungskletterschuhe gab es allerdings noch nicht. Kletterpatschen mit Manchon (Filzsohlen) waren das Beste, was es gab – und doch mehr als lausig im glatten Fels. Im feuchten
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