Ein Stueck vom Himmel
Zustand gab die Filzsohle etwas mehr Halt, und so war es üblich, sie vor schweren Stellen anzupinkeln.
Das wollte ich vor den glatten Spiralrissen der Ostwand tun – konnte es aber nicht an diesem heißen Sommertag. So kam es zu dem etwas eigenartigen Dialog ...
»Franzl, kannst du?«
Nach langer Stille: »I kann auch net!«
»Wirklich net?«
»Wirklich net! Müssen wir jetzt deswegen umkehren?«
Mussten wir nicht. Wir gingen die Spiralrisse barfuß.
Der Nimbus um die Fleischbank-Ostwand entstand vor allem auch deswegen, weil Hans Dülfer bei der Erstbegehung den von ihm erfundenen Seilquergang anwandte. Mit einem Seilquergang werden Querungen an Steilwänden durch schräges Abseilen überwunden – ein Überlisten der Schwerkraft, das volle Körperbeherrschung verlangt. Ein Seilquergang galt damals als der Höhepunkt moderner Klettertechnik.
Ein Foto von einem wie eine Spinne im Netz hängenden Kletterer am Seilquergang der Fleischbank-Ostwand stand auf meinem Schreibtisch im Büro. Und bevor wir in den Wilden Kaiser fuhren, um die Fleischbank-Ostwand zu machen, sind der Franzl und ich monatelang zu den kleinen Felsen in unserem Wienerwald gewandert, um Seilquergänge zu üben, üben, üben ...
Und je länger ich übte, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, dass ich wohl nie so ein perfekter Seilquergänger werden würde wie der Kerl vom Foto auf meinem Büroschreibtisch.
Dann standen wir vor ihm – dem Seilquergang der Fleischbank-Ostwand. Er war ganz anders, als ich ihn mir in der Phantasie vorgestellt hatte ... nicht so steil und nicht so glatt.
Sepp Brunhuber am Seilquergang in der Fleischbank-Südostwand (Wilder Kaiser)
Die schönste Geschichte der Bergkameradschaft: Der Lucke Hansei und der Aschenbrenner Peter gehörten zu den besten Kaiser-Kletterern
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Karl und Fritzi Lukan vor der Biwakschachtel unter der Croda Rossa in den Sextener Dolomiten
1948 kletterten Hansl Hausner und »Charly« Lukan durch die Nordwand der Großen Zinne
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Alle die kleinen Wienerwaldfelsen, an denen wir Seilquergänge geübt hatten, waren viel steiler und glatter gewesen. Am Seilquergang in der Fleischbank-Ostwand sah ich winzige Griffe und Tritte im Fels und am Ende der Platte war ich überzeugt davon, dass sie auch frei kletternd zu derpacken gewesen wäre. Ich war ein bisserl enttäuscht ...
Von dem Satiriker Roda Roda (1872–1945) stammt die berühmte Geschichte vom Portier der Griechischen Gesandtschaft in Wien, der (in Erwartung eines großzügigen Taufgeschenkes) seinen jüngstgeborenen Sohn Archilochos benannt hatte. Doch dann wurde der Gesandte überraschend über Nacht abberufen. Es gab kein Taufgeschenk und der arme Portier jammerte: »Jetzt heißt der arme Bua sein ganzes Leben Archilochos und hat einen Dreck davon!«
Wir hatten monatelang im allersteilsten Fels komplizierte Seilquergänge für die Fleischbank-Ostwand geübt und dann ebenfalls »einen Dreck davon« gehabt.
Doch zwei Tage später fühlte ich mich nicht mehr als »armer Bua«. Da hing ich am Nasenquergang in der Totenkirchl-Westwand. Ein Jahr nach der Erstbegehung der Fleischbank-Ostwand hatte Hans Dülfer 1913 auch diese Wand durchstiegen, und der Quergang in ihr wurde als Meisterleistung verwegener Kletter- und Seilakrobatik hochgelobt.
An diesem Quergang hätte ich gerne nicht nur zwei, sondern drei Hände gehabt ... eine fürs Halten am Quergangseil und noch zwei fürs Fingerln nach Griffen. Heilfroh war ich nun für jede Stunde – sogar jede Sekunde –, die ich beim Seilquergangüben im Wienerwald verbracht hatte.
Nach der Fleischbank-Ost und Totenkirchl-West fühlten wir uns eineinhalb Tage lang als neue Meister verwegener Kletter- und Seilakrobatik ... bis die sechs Nürnberger in die Gaudeamushütte kamen.
Sie wollten die Leuchsturm-Südwand durchsteigen, die Wand mit dem schwersten Seilquergang vom Wilden Kaiser. Einer der Nürnberger hatte sie schon gemacht. Seine Meinung: »Ein Kletterer, der im Wilden Kaiser diese Wand mit dem Seilquergang nicht gemacht hat, der darf nachher nicht erzählen, dass er im Wilden Kaiser war!«
Wir hatten von dieser Wand noch nie etwas gehört, aber dass wir im Wilden Kaiser waren, wollten wir nachher schon erzählen.
So kam es, dass am nächsten Morgen auch wir zwei Wiener zur Leuchsturm-Südwand zogen.
Vor dem Seilquergang hatten die Nürnberger ein Problem. Ein Seilquergang ist nur für den Vorauskletternden ein Kletterabenteuer; alle Nachfolgenden haben es leicht, können bequem
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