Ein Stueck vom Himmel
Ventoux zur »Geburtsstunde des Alpinismus«.
Historiker lebten (und manche leben noch immer) in einer abstrusen Gedankenwelt: ohne Schriftliches mit Jahreszahl keine Historie. Petrarcas Brief über seine Bergbesteigung war ein solches Dokument und darum wurde er zum »Vater des Alpinismus«.
Eine falsche Vaterschaft! Denn in diesem Brief berichtet Petrarca auch, dass er unterwegs einen alten Hirten getroffen hatte, der schon vor fast fünfzig Jahren »im Drang jugendlichen Feuers auf diese höchste Höhe emporgestiegen« ist. Und: »Es sei weder vorher noch nachher gehört worden, dass einer das gewagt hätte.« Petrarca wollte auf dem Berg seiner Jugend oben gewesen sein. Der alte Hirte hatte ihn »im Drang jugendlichen Feuers« schon vorher erstiegen. Nur schreiben konnte er nicht. Petrarca konnte schreiben. Darum ist er zum historischen »Vater des Alpinismus« geworden.
Der Mont Ventoux ist kein markanter Berg. Er ist ein fader Schotterhaufen, der nur höher ist als alle anderen Berge rund um ihn. Eine Autostraße führt auf ihn hinauf, ein Gasthof steht oben. Wir waren sehr enttäuscht von dem Berg, auf dem die Geburtsstunde des Alpinismus geschlagen haben soll.
Ganz leise hatte es dann in der Nacht geschneit und am Morgen lagen einige Zentimeter Neuschnee auf dem Geröll. Stolz sagte der Wirt: »Heute wird Ihnen unser Berg besser gefallen ... weiß ist er wie der Montblanc!«
In der Erschließungsgeschichte der Alpen gibt es auch eine historische Geburtsstunde des extremen Bergsteigens. Das ist allerdings keine Mogel-Geburtsstunde.
Wie kam die Scheibtruhe auf
den Mont Aiguille?
»Mont Inaccessible« – Unersteigbarer Berg, so wurde bis in die Mitte des zweiten Jahrtausends ein Felsturm in den französischen Alpen bei Grenoble genannt. An die 300 Meter hoch sind an allen Seiten seine Steilwände und so imponierend steht der 2097 Meter hohe Felsklotz in der Landschaft, dass er einst als ein Wunder seines Landes galt.
Es war König Karl VIII. von Frankreich, der beim Anblick dieses Felsens wünschte (oder befahl), dass er erstiegen werde. Und sein Kammerherr Antoine de Ville erstieg ihn dann auch im Jahre 1492 – in jenem Jahr, in dem Amerika entdeckt wurde.
Diese erste Ersteigung des »unersteigbaren Berges« war eine Tat weit aus dieser Zeit. Denn es gab damals weder eine geeignete Ausrüstung für ein solches Unternehmen noch irgendwelche Erfahrungen, wie man es macht, über senkrechte Felswände hinaufzuklettern. Antoine de Ville kletterte im Jahre null des Felskletterns.
Oben auf dem Gipfel wurden drei Kreuze errichtet, das Tedeum angestimmt und der Felsturm von einem Priester im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit getauft. Und nachher blieben die Bezwinger des »unersteigbaren Berges« gleich noch eine ganze Woche auf dem Gipfel. Sie wollten diesen nicht eher verlassen, bevor nicht ein Abgesandter des Parlaments von Grenoble ihre Anwesenheit auf dem Berg mit Unterschrift und Siegel bestätigt hatte.
Der Abgesandte kam. Es war der Zeremonienmeister des Parlaments, ein auf seine Würde sehr bedachter Herr. Keuchend und in seiner standesgemäßen Kleidung heftig schwitzend erreichte er den Fuß des Turmes. Er sah in den Felsen angelehnte Leitern und oben auf dem Gipfel einige Männer stehen. Antoine de Ville lud den Zeremonienmeister durch Zuruf höflich ein, zu ihm heraufzukommen, um das Besteigungsdokument zu unterschreiben.
Den Zeremonienmeister packte bei diesem Vorschlag das Grauen ... »Das hieße Gott versuchen«, stotterte er. Er unterzeichnete selber die Besteigungsurkunde am Fuße des Berges. Und erst nachdem dies geschehen war, stiegen Antoine de Ville und seine Männer wieder von dem Berg ab, der von nun an nicht mehr der Unersteigliche genannt wurde, sondern Mont Aiguille. Alpinhistoriker sahen später in dieser Erstersteigung die Geburtsstunde des extremen Bergsteigens.
Erst im Jahre 1834 wurde der Felsturm wieder erstiegen. Der Bericht Antoine de Villes über die Erstersteigung hatte lange sogar die Mutigsten abgeschreckt, das Abenteuer zu wiederholen. Darin heißt es: »Es war der fürchterlichste und grauenerregendste Weg, den ich oder ein Mitglied unserer Gesellschaft je gegangen ist!«
Wo die Gesellschaft auf den Turm geklettert ist?
Einer von ihr war ein »königlicher Leitermacher« und darum wird angenommen, dass der Aufstieg durch eine Schlucht erfolgt ist, deren Steilabbrüche gut mit Leitern zu überwinden waren. In der tief eingeschnittenen düsteren Schlucht rechts von
Weitere Kostenlose Bücher