Ein Stueck vom Himmel
Tofana-Südwand. Und ein Meisterwerk des Wegfindens ist der Dimaiweg in der Fiames-Südwand oberhalb von Cortina d’Ampezzo.
Die Wand gefiel uns sofort. Im Dolomiten-Kletterführer lasen wir, dass sie eine »außerordentlich beliebte, sehr elegante und genussreiche Kletterei« des IV. Schwierigkeitsgrades sei. Doch je näher wir ihr kamen, desto mehr bezweifelten wir das. Im oberen Teil der Wand sahen wir nur Überhänge und Felsdächer. Und das ist das Wundersame vom Dimaiweg: In Wirklichkeit ist er eine Kletterei im III. Schwierigkeitsgrad mit einer Kletterstelle des IV. Grades. Es gibt wohl in den ganzen Alpen keine Kletterroute, die an Genialität der Wegführung den Dimaiweg übertrifft.
Dimai kletterte in »Scarpe da gatto« (Katzenschuhen). Diese hatten eine Sohle aus geflochtenen Stoffresten. Die Kletterseile waren aus sprödem, nicht sehr reißfestem Hanf und gesichert wurde »mit der Hand« (die Schultersicherung feierte man erst um 1930 als Triumph moderner Sicherungstechnik). Seine Seile verwendete Dimai durchschnittlich zehn bis zwölf Jahre! Und Mauerhaken hatte er auf keine seiner Touren mitgenommen ... »Wenn man damit einmal anfängt, dann ist’s mit dem Klettern aus!«, hatte er immer wieder gesagt.
Antonio Dimai begann mich immer mehr zu interessieren. Er war ein Ladiner. Für die meisten Dolomitenbesucher leben in diesem Land nur die deutschsprachigen Südtiroler und die zugewanderten Italiener. Auch ich wusste lange nicht mehr als nur, dass es auch noch die Ladiner gibt.
Ladiner sind die Nachkommen der prähistorischen Bevölkerung der Ostalpen, die von den römischen Eroberern »Räter« genannt wurden. Viele von diesen zogen sich dann in die Seitentäler zurück, wo sie als Rätoromanen weiterhin ihre Eigenständigkeit bewahren konnten. In ihrer Sprache haben sich prähistorische Wortstämme bis heute erhalten, sie sind Fremde in unserer Zeit. Fritzerl und ich hätten nie gedacht, dass wir beide einmal die Enkelin von Antonio Dimai durch die Fiameswand ihres Großvaters führen würden.
Nach dem Krieg hatte ich im Schroll-Verlag (in dem ich als Hersteller arbeitete) einige Bergbildbände herausgebracht: »Dolomitenland«, »Das große Dolomitenbuch«, »Das Große Ostalpenbuch«, »Die Alpen«, »Alpinismus in Bildern«. Foto Ghedina in Cortina d’Ampezzo war ein Ansichtskartenverlag, in dessen Archiv damals die schönsten Dolomitenfotos zu finden waren. Oft, viele Jahre lang fuhr ich nach Cortina wegen Fotos aus den Dolomiten und den angrenzenden Alpengebieten. Dabei lernte ich Hyacinto Ghedina kennen.
Cinto hatte in Wien die Hochschule für Welthandel besucht und seinen Doktor gemacht. Nach dem Tod seines Vaters verwandelte er den berühmten Postkartenverlag in die »Edition Ghedina«, die auch Führerwerke und alpin-historische Schriften herausbrachte.
Nach einer Kletterwoche in den Dolomiten wollten wir einmal noch Cinto besuchen. Wir trafen den Verlagschef an diesem Samstagabend beim Heumachen auf einer riesigen Wiese oberhalb von Cortina. Er sagte: »Leider lässt mir mein Beruf so wenig Zeit, dass ich nur am Wochenende richtig arbeiten kann.«
Doktor Cinto Ghedina besitzt keine Kühe. Das Heu, sein Heu verkauft er natürlich an andere ... Die Ladiner sind Europas beste Geschäftsleute!
Am nächsten Morgen, dem Sonntagmorgen, war Cinto schon um drei Uhr früh aufgestanden und zu einer Alm aufgestiegen – einer Gemeindealm, wo er überprüfen musste, wie viel Milch jede Kuh der einzelnen Gemeindemitglieder gibt. Dieses Amt eines Gemeindealmkommissars ist allerdings nur ein Ehrenamt mit viel Müh und Plag. Aber Cinto sagte irgendwie stolz: »Heuer durfte ich’s übernehmen!«
Wenn Cintos Vater in einem Bauernjanker mit Lederherzerl am Ärmel durch seinen Betrieb ging, sah er eher wie ein Bauer aus. Aber die Maschinen in seinem Betrieb waren immer die allerneuesten (in Wien sah ich diese ein, zwei Jahre später). Und dass sein Sohn in Wien studieren sollte, hatte er für die Familie als gewinnbringend gehalten.
Cinto freute mein Interesse an den Ladinern. Und so nahm er mich mit zu Proben des Cortineser Bergsteigerchores wie auch zu Zusammenkünften des berühmten Kletterer- und Bergführerclubs »Scoiattoli« (= Eichhörnchen), der nur aus Cortinesern besteht. Das heißt – nicht ganz ...
Vor einem Schaufenster mit den Fotos der Bergführer zeigte uns Cinto auch ein schwarzes Schaf: »Der ist wohl in Cortina geboren worden, ist aber kein Ampezzaner!«
Um als Ampezzaner
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