Ein Stueck vom Himmel
oder Ladiner zu gelten, muss man seine Ahnen schon bis in jene Zeit zurückverfolgen können, in der Cäsar noch in den Windeln lag.
Ich erhielt von Cinto eine Einladung zur Eröffnung der Seilbahn auf die Tofana di Mezzo, 3244 Meter hoch (bei der selbstverständlich die Ghedinas Aktionäre waren). »Freccia nel Cielo« (Himmelspfeil) wurde sie genannt, und ebenfalls selbstverständlich haben die alten Ladiner aus Cortina mit ihr eine der damals modernsten Seilbahnanlagen der Alpen in Auftrag gegeben.
Eines Tages erhielt ich die Einladung zu einer Hochzeit: Cinto Ghedina heiratet Ada Dimai. Ada war die Enkelin vom berühmten Dolomiten-Bergführer Antonio Dimai – mein Idol! Zu dieser Hochzeit waren Angehörige der ältesten Cortineser Familien gekommen, und bei vielen der Männer hatte ich das Gefühl, alte Bekannte wiederzusehen. Es waren die etruskischen wie auch römischen Porträtköpfe aus früher Zeit, die ich in den Antikensammlungen gesehen hatte und an diesem Tag im Antlitz vieler Ladiner wiederzusehen glaubte. Als ich das Cinto erzählte, korrigierte er mich: »Wir Ladiner sind ein viel älteres Volk als die Etrusker und Römer!«
Die Ladiner sind ein sehr selbst- und traditionsbewusstes Volk. Cinto und seine Ada waren ein glückliches Paar. Nur mit dem Patriarchat war die junge moderne Frau nicht ganz einverstanden.
Eine Frau war gestorben. Cinto, auch ehrenamtlicher Mesner einer kleinen Kapelle in Cortinas Vorort Verocai, hätte nun die Totenglocken läuten müssen. Da er an diesem Tag auf Geschäftsreise war, tat dies stellvertretend seine Frau Ada.
Ada, (leicht verschnupft): »Wäre ein Mann gestorben, hätte ich dreimal läuten müssen, bei einer Frau darf ich nur zweimal. – Nicht einmal im Tode dürfen wir Frauen den Männern gleich sein.«
Aber dann erzählte uns Ada, wie das so ist, wenn in Cortina ein Ladiner stirbt. Die Nachbarn ergreifen Besitz von dem Haus, kochen, bewirten die Trauergäste, gehen allerdings nicht auf das Begräbnis, sondern räumen währenddessen alles weg, was noch an den Toten erinnert. Wenn dann die Angehörigen vom Begräbnis zurückkommen, so kommen sie in ein blitzblankes Haus, aus dem der Tote für alle Zeiten weggegangen ist.
Als Ada hörte, wie sehr wir als Bergsteiger ihren Großvater verehrten, führte sie Fritzerl und mich in sein Haus. Darin begrüßte uns Dimais greise Schwester und in der holzgetäfelten Stube erzählte sie von ihrem Bruder.
1865 hatte dessen Vater Angelo Dimai mit Paul Grohmann den Monte Cristallo ersterstiegen, ein Jahr später wurde ihm Antonio Dimai (1866–1949) geboren, der dann zu einem der großen Dolomitenführer wurde. Viele Jahre führte Antonio Dimai auch König Albert I. von Belgien. Zwischen den beiden Männern entstand bald eine Freundschaft. Nur als der König einmal seilfrei gehen wollte, wurde der Bergführer wild: »Im Tal sind Sie der König, am Berg bin ich es!« (Bei einem Alleingang stürzte der König dann auch im Jahre 1934 tödlich ab.)
Antonios Söhne Angelo und Giuseppe wurden ebenfalls Bergführer. Aber sie lebten schon in einer anderen Zeit. 1933 wollten sie durch die Nordwand der Großen Zinne klettern.
Versuche von den besten Extremkletterern dieser Zeit gab es schon vorher. Mit dem Triestiner Emilio Comici durchstiegen die Brüder Dimai dann am 13./14. August 1933 die Wand. Sie haben auch die ersten Kletterbilder aus der Wand mitgebracht – sie wurden zu »Bestsellern« der Ansichtskarten von Foto Ghedina. Im Dimaihaus erzählte uns Frau Ada auch von ihrer Mutter Juditha.
Im Jahre 1920 schneiderte Juditha nachts, wenn schon alle schliefen, an einer Hose. Sie wollte mit ihrem Bruder Angelo die Fiames-Südwand machen, die steil und hoch über dem Dimaihaus in den Himmel ragt. Der Vater hatte die Wand erstmals durchstiegen, sie wollte diese ebenfalls erklettern. Natürlich durfte der Vater das nie und nimmer erfahren!
Irgendwie erfuhr er es aber doch, und natürlich gab es nachher für die zwei Geschwister ein ganz furchtbares Donnerwetter. Am meisten war Vater Dimai darüber erzürnt, dass seine Tochter dabei eine Hose getragen hatte und nicht einen sittsamen Rock. Juditha Dimai war damals die erste Ampezzanerin, die Hosen getragen hatte. Sie ist dann nie wieder auf einen Berg gestiegen.
Im Dimaihaus sagte Ada zu uns: »Mein Leben lang schau ich Tag für Tag zur Fiameswand hinauf. Meine Mutter hat sie gemacht – ich nicht. Ich möchte auch Großvaters Wand kennenlernen. Bitte, nehmt mich einmal
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