Ein Stueck vom Himmel
klettern. Doch der Seilerste fühlte sich nicht recht wohl dabei, fingerte lange nach Griffen, zögerte vor jedem Höhersteigen. Die beiden waren sicher gute Kletterer in ihren Heimatbergen, im steilen Dolomitenfels mussten sie sich erst einklettern. Wir aber wollten hinter dieser Seilschaft nicht nachklettern. Über uns die herrliche Kante im hellen Sonnenlicht, es kribbelte in unseren Fingern, allzu gern wären wir an ihr hochgeklettert. Aber irgendwas hielt uns davon ab. »Machen wir was anderes!«, sagte Leo.
»Machen wir den Fehrmann-Kamin«, sagte ich. Trotzreaktion!
Bisher hatte ich gesagt, dass mich keine zehn Rösser in diesen grauslichen Kamin bringen könnten. Jetzt wollte ich ihn machen, weil wir die herrliche Gelbe Kante nicht machen konnten. Bereits im Jahre 1909 wurde der Kamin von dem Sachsen Rudolf Fehrmann mit dem Amerikaner Oliver Perry-Smith erstmals durchklettert. Heute noch wird er mit dem Schwierigkeitsgrad V+ bewertet. 1914 erkletterte ihn der Wiener Alfred Horeschowsky im Alleingang. Als ich ihn (als damals Achtzigjährigen) gefragt hatte, wie der Kamin sei, antwortete er milde lächelnd: »Grauslich. Und leichter wird er auch nie mehr werden!«
Sepp Brunhuber, der zu seiner Zeit viele der damals schwierigsten Dolomitenwände durchstiegen hatte, hielt den Fehrmann-Kamin ebenfalls für eine außergewöhnliche Klettertour: »Den Kamin kannst nur mit Schmäh derpacken!«
Der Wiener Schmäh hat viele Spielarten. Mit Schmäh unterhalten Conférenciers ihr Publikum. Mit Schmäh bringen Betrüger andere Leute um ihr Geld. Mit Schmäh derpacken die Wiener Bergsteiger jene Kletterstellen, welche im richtigen, sprich korrekten Kletterstil nicht machbar erscheinen. Beispiel: Mein 1,48 Meter großes, kleines Fritzerl hatte einmal an einer Hangelstelle (für die sie zu klein war) unbedenklich auch das Kinn eingesetzt.
Wir waren auf das Schlimmste gefasst, als wir in den Kamin einstiegen – und alles war dann ganz anders, als wir es uns vorgestellt hatten. Wir hatten uns an kräfteraubenden Kaminüberhängen hängen gesehen, aber unser Problem wurde dann ein Kamin, der zum Spreizen zu weit und innen zum Verklemmen zu abdrängend war. Oder eine harmlos aussehende geneigte Platte, die auch harmlos gewesen wäre, wenn es auf ihr wenigstens ein, zwei Grifferl oder Tritterl gegeben hätte.
Wir waren losgezogen, um die schönste Kletterei an der Kleinen Zinne zu machen, hatten aber dann den Gipfel über eine höchst übel beleumdete Route erreicht. Schön war das Klettern nicht in dem düsteren Kamin und in dem stellenweise brüchigen Fels. Es war aber ein unvergessliches Erlebnis, auf einer Freikletterroute aus dem Jahre 1909 unterwegs zu sein, an der manche Stellen nur mit Schmäh (oder wie man es auch nennen mag) zu derpacken sind. Doch gut klang der Tag nicht aus ...
Als wir wieder am Fuß der Kleinen Zinne ankamen, erfuhren wir, dass die beiden Schweizer, mit denen wir so lange geplaudert und gelacht hatten, kurze Zeit, nachdem wir den Einstieg verlassen hatten, von der Kante abgestürzt sind. Einer war tot, der andere schwer verletzt. War es eine Vorahnung, die uns davon abgehalten hatte, hinter den zwei nachzuklettern?
Dolomiten – das Jugendland
1978 zogen Fritzerl und ich zur Feier unseres Jubiläums »Dreißig Jahre Klettern in den Dolomiten« zur Dibonakante an der Großen Zinne los. Fritzerl hatte 1948 die Kante gemacht, ich die Nordwand der Zinne. Damals ist Fritzerl die Kante barfuß geklettert, nun wollte sie diese einmal in Kletterschuhen genießen. Ich wollte nach dreißig Jahren wenigstens in die Nordwand wieder hineinschauen.
Fritzerl ist damals von der Zinnenhütte in genagelten Bergschuhen bis zum Paternsattel gegangen, hat sie dort ausgezogen und unter einem Felsblock versteckt. Barfuß ging sie dann das Geröll bis zur Nordschlucht, das Schneefeld hinauf zum Einstieg, dann die Kante (550 Meter) bis auf den Gipfel, Abstieg zum Paternsattel und zu den Bergschuhen.
Fritzerl hatte in diesem Dolomitenurlaub wohl auch ein Paar der damals kostbaren Kletterschuhe mitgehabt, aber diese wollte sie für die Dibonakante nicht anziehen, sondern für längere Touren schonen.
»Madel, du spinnst!«, hatten damals ihre Kletterpartner zu ihr gesagt. Dreißig Jahre später war sie ebenfalls dieser Meinung. Allerdings: Vom vielen Barfußklettern hatten wir damals alle schon Hornhäute wie Krokodile an den Füßen.
Die Dibonakante an der Großen Zinne: 550 Meter hoch, Schwierigkeitsgrad IV.
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