Ein Sturer Hund
viel rascher und verhängnisvoller entwickeln würde, als zunächst angenommen. Völlig zu Recht. Denn als er in seinem 924er, der auf der Schneebahn ungnädig dahinrutschte, vor dem Chengschen Büro vorfuhr, bemerkte er Menschen, die gerade eben durch die Ladentür in das Innere traten. In ein beleuchtetes Inneres, so daß man annehmen konnte, Cheng befinde sich bereits darin und empfange späte Gäste. Wenn es denn Gäste waren.
Dr. Thiel stellte seinen Wagen in zweiter Spur ab, blieb aber noch eine ganze Weile darin sitzen, mit sich ringend, ob es nicht doch opportun sei, Rosenblüt zu benachrichtigen. Aber wozu wäre das gut gewesen? Sein Chef hätte ihn ja doch nur zurückgepfiffen. Also stieg Thiel aus dem Wagen und wollte gerade die alpine Fahrbahn überqueren, als er sah, wie sich Cheng vom tiefer gelegenen Teil der Straße näherte. Genaugenommen erkannte er dessen Gang. Erneut zögerte Dr. Thiel. Er beobachtete Cheng, wie dieser durch die Ladentür trat. Das war nun alles nicht gerade logisch. Weshalb sich Thiel zu einer gewissen Vorsicht entschloß.
Wie bei seinem ersten Besuch in Chengs Büro wählte er den Weg über den Hinterhof und öffnete mittels einer Plastikkarte die Türe, welche in den Werkstattraum führte. Er war zwar unbeleuchtet, doch ein Lichtkeil, der aus dem vorderen Raum nach hinten fiel, bildete eine Art von illuminiertem Kanal, in dessen Randzone sich Dr. Thiel vorwärtsbewegte. Dabei vernahm er ein Gespräch dreier Personen. Eine männliche Stimme, die ihm fremd war, erwähnte den Namen Moira. Was die Wirkung eines Fanals besaß. Noch im Gehen zog Thiel seine Pistole aus dem Gurt. Er war ein guter Schütze. Er liebte es, auf dem Schießplatz zu üben. Im Zustand der Konzentration aufzublühen und die Welt auf den Abstand zwischen sich und seinem Ziel zu reduzieren. Er liebte wohl das Gefühl von Ordnung, das dabei entstand. Eine Ordnung, die niemals kippte, weil er niemals den anvisierten Punkt verfehlte. Allerdings hatte er in seiner kurzen Polizeikarriere noch kein einziges Mal auf einen wirklichen Menschen geschossen. Nicht aus Rücksicht, sondern aus einem Mangel an Notwendigkeit.
Er wartete ab, lauschte. Und erfuhr so den Namen jenes glücklosen Schriftstellers Moritz Mortensen, ohne dessen Einmischung die ganze Angelegenheit weit weniger dramatisch abgelaufen wäre. Dann setzte Thiel seinen leisen Gang fort, und als er nur noch einen Schritt vom Türrahmen entfernt war, hob er die Waffe an. Er gewahrte Cheng, der in angespannter Haltung in einem Stuhl saß. Und indem Dr. Thiel einen Schritt seitwärts tat und damit tiefer in den Lichtkegel geriet, konnte er nun auch weitere Teile des Büroraums erkennen. Neben einem kleinen Tisch auf Rollen stand ein älterer, schlanker Mann. Seine rechte Hand steckte in der Hosentasche, während die Finger der linken gleich den Armen eines aufgebäumten Seesterns auf ein offenes Telefonbuch gestützt waren.
Dr. Thiel peilte den Körper an. Der Lauf der Waffe folgte der Bewegung des Mannes, der nun von dem Telefonbuch wegtrat und sich gegenüber von Cheng in einem zweiten Stuhl niederließ. Da war freilich noch eine Frau anwesend, die Dr. Thiel hören, aber nicht sehen konnte, und die sich in einer beklemmend nüchternen Weise mit Chengs Köter unterhielt. Einem Köter, welcher nun nicht mehr zu sterben brauchte. Sehr wohl aber Cheng, gegen den jetzt die Waffe des Engländers gerichtet wurde. Daß es sich um einen Engländer, um einen Mann des Secret Service handeln mußte, stand nun außer Zweifel. Dies also waren die Spezialisten, die man über den Kanal geschickt hatte und deren Reinlichkeitsbedürfnis umfassender war, als von Neukomm angegeben.
Dr. Thiel reagierte. Er tat den einen nötigen Schritt nach vorn, um den gesamten Raum übersehen zu können. Da der britische Agent soeben in zynischer Weise das große Herz der deutschen Polizei erwähnt hatte, überraschte Dr. Thiel die Anwesenden mit einem »Apropos Herz!«.
Das war natürlich eine unnötige Draufgabe zu seinem plötzlichen Erscheinen. Aber immerhin ließ er den beiden Worten ohne Unterbrechung eine Kugel folgen, die in der Schulter des MI6-Mannes landete. Praktisch aus dem Schuß heraus schwenkte Dr. Thiel die Waffe gleich einem Gartenschlauch in Richtung auf den Punkt, wo er die Frau angenommen hatte und wo sie sich auch tatsächlich befand.
Während sie ihre Hand unter ihre Jacke schob, war Thiel auf sie zugesprungen und hatte ihr die Mündung seiner Waffe in die
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