Ein süßes Abenteuer
ihm. Offensichtlich verwirrte ihr Anblick nicht nur seine Sinne, sondern schlug ihm auch auf die Stimme, denn sie klang plötzlich ziemlich heiser.
“Das sehen Sie doch, ich habe Lem nach Chelsea gefahren”, erwiderte Diana, nicht im Geringsten verlegen.
Neville rang um Fassung. “Ja, gewiss. Das meinte ich nicht. Warum tragen Sie Männerkleidung?”
“Sir Neville, wenn Sie uns in Ihren Salon führen, werde ich Ihnen gerne alles erklären. Und im Gegenzug müssen Sie uns Ihre Geschichte erzählen.”
Wieder einmal bewies die junge Frau, dass sie neben ihrer exzentrischen Ader auch ein außergewöhnliches Maß an gesundem Menschenverstand besaß. Das gehörte zu ihren verwirrendsten Eigenschaften.
“Selbstverständlich”, lenkte Neville ein. “Ich muss wohl über Nacht meine guten Manieren verloren haben, fürchte ich.”
Sobald sie alle im Salon Platz genommen hatten, ergriff Diana das Wort. “Zunächst möchte ich erklären, weshalb ich verkleidet und in meinem Phaeton bei Ihnen erscheine. Da wir bei unserem Einsatz für die vermissten Mädchen diskret vorgehen müssen, wie Sie mehrfach betont haben, wollte ich Lem so unauffällig wie möglich nach Hause fahren – nicht in meiner Kutsche mit dem Medbourne-Wappen und mit großem Gefolge. Auf den ersten Blick haben Sie mich gar nicht wiedererkannt, und dasselbe gilt wahrscheinlich für alle Personen, denen wir unterwegs begegneten. Und nun zum Anlass meines Besuchs: Lem machte sich große Sorgen, weil Sie so lange nicht nach Hause kamen. Heute Morgen brachte er Ihren Anweisungen gemäß Belinda zu mir und bat mich um Rat und Hilfe. Ich bestand darauf, ihn zurück nach Chelsea zu begleiten, in der Hoffnung, dass Sie doch noch wohlbehalten zurückkehren. Nun brennen wir darauf, zu hören, was Sie vergangene Nacht erlebt haben.”
In ihrer charmanten Art hatte Diana einen bemerkenswert kurzen aber sachlichen Bericht abgegeben. Keiner von Nevilles bisherigen Sekretären hätte das alles besser zusammenfassen können.
“Sie haben völlig richtig gehandelt”, räumte er ein, ohne ein weiteres Wort über ihre Kleidung zu verlieren. Bei näherem Hinsehen saßen sowohl der Rock als auch die Reithose so gut, dass sie eigens für sie geschneidert worden sein mussten. Aber das tat im Augenblick nichts zur Sache. “Dann werde ich jetzt mein Abenteuer schildern – ein, gelinde gesagt, unschönes Abenteuer”, fuhr er fort.
Am Ende seiner Geschichte schwiegen alle. Nicht einmal der schlagfertigen Diana fiel auf Anhieb eine passende Bemerkung ein. Sie begriff nur allzu gut, welche Folgen seine Festnahme und seine Anklage wegen Trunkenheit nach sich ziehen konnten.
“Jawohl”, bestätigte Neville, der ihre Gedanken erriet. “Ich werde jedes Ansehen verlieren, nicht wahr? Eigentlich sollte mich das lehren, in Zukunft die Finger von diesem Fall zu lassen, aber, verflucht noch mal, das werde ich nicht! Die ganze Affäre stinkt zum Himmel! Warum leitet Sir Stanford ausgerechnet heute eine Verhandlung in einem untergeordneten Gericht, das sich nur mit geringfügigen Vergehen befasst? Der übliche Richter hätte mich nämlich nicht gekannt. Auch Sir Stanford schien mich zunächst nicht wiederzuerkennen, aber vielleicht hat er bloß so getan. Oder wittere ich da eine Verschwörung, wo es gar keine gibt?”
“Vor allen Dingen”, sagte Diana langsam, wobei sie ihre Worte mit Bedacht wählte, “können Sie von Glück sagen, dass die Schläger Sie nicht umgebracht haben. Wussten die beiden, wer Sie sind?”
“Mit Sicherheit nicht. Dieser Punkt spricht dagegen, dass es sich um eine Verschwörung handelt”, gab Neville zu.
Unwillkürlich schlug Diana denselben Ton an, in dem sie früher mit Charles über wissenschaftliche Fragen zu disputieren pflegte. “Was halten Sie von folgender Theorie: Irgendein Besucher bei Madame Josette hat Sie trotz Ihrer Verkleidung wiedererkannt, wollte Sie anfangs jedoch nicht verraten. Erst als Sie und Ihr Begleiter mit Belinda verschwanden und Madames Wächter Alarm schlugen, gab er Ihren wahren Namen preis. Danach benachrichtigte entweder er oder Madame Sir Stanford. So kam es, dass dieser heute in dem Gericht erschien, vor das Sie gebracht wurden.”
“Wenn Ihre Theorie stimmt, Diana, gehört der Mann, der mich identifiziert hat, höchstwahrscheinlich zu der Verbrecherbande. Und Sir Stanford ebenfalls. Das würde natürlich erklären, weshalb er mir seine Hilfe verweigerte, als ich ihn wegen Belinda aufsuchte. Auf alle Fälle
Weitere Kostenlose Bücher