Ein sueßes Stueck vom Glueck
zur Spitze der Île de la Cité mit den kahlen Bäumen und den trotz der Kälte und des schwindenden Lichtes immer noch dort sitzenden Pärchen schaute. Die Straßenlaternen erwachten zum Leben und spendeten in der Winterdämmerung etwas Wärme. Um Louvre, Notre-Dame und das Musée d’Orsay, dessen riesige Uhr grünlich schimmerte, erhob sich ein sanftes Leuchten. Der Wind fegte ein Nieseln über sie hinweg und drängte sie heim. Zu schade nur, dass sie hier kein richtiges Zuhause hatte. Sie hatte nur ein zeitlich befristet gemietetes Apartment, mit Aussicht auf die Dinge, die sie sehen wollte.
Thanksgiving rückte näher und dann Weihnachten. Vielleicht sollte sie langsam zu ihrem richtigen Zuhause zurückkehren. Ihre Stirn legte sich in Falten, und ihr Herz schlug schneller, als ihr ein weiterer Aspekt ihres derzeitigen Konfliktes in den Sinn kam: Wo sollte sie die Feiertage verbringen? Sie hatte mit ihrem Vater vereinbart, nicht länger als einen Monat fortzubleiben. Ein Monat – das schien eine Menge freier Zeit zu sein, als sie sie ausgehandelt hatte, aber nun kam es ihr sehr, sehr kurz vor.
»Ich habe eine Visitenkarte aus deiner Brieftasche genommen, als du geschlafen hast«, unterbrach er nüchtern ihre Gedanken.
»Du hast sie mir gestohlen?« Sie war außer sich.
Es entstand eine lange, ungläubige Pause. »Willst du mich veralbern?«
»Hast du sonst noch was geklaut?« Ihr Magen zog sich auf altbekannte Weise zusammen. Eine Kreditkarte zum Beispiel. Wenn all das nur auf Geld hinauslief …
»Was zum Beispiel? Ton passeport? Damit du nicht abhauen kannst – mit all meinen Geheimnissen?« Hatte sie sich das eingebildet, oder hatte er »mit all meinen Geheimnissen« noch hastig angehängt? Der Rhythmus des Satzes war kaum ins Stocken geraten. Sie hatte es sich wahrscheinlich eingebildet. Es war ihm egal, ob sie verschwand, außer sie stahl dabei seine Geheimnisse. »Müssen Leute, die mit Privatjets fliegen, auch ihren Pass vorzeigen?«
»Ja, aber die Einreisestempel sind golden.«
Er lachte. »Ich habe etwas für dich. Isst du auch was, das keinen Zucker enthält? Ich kann heute Abend etwas für uns kochen.«
Und wie sie dort im Nieselregen stand und über das braune Wasser auf die winterkahle Spitze einer Insel und Notre-Dame schaute, merkte sie, wie ihr ganzes Gesicht sich in einem Lächeln öffnete. Sie versuchte dennoch ihrer Stimme einen neutralen Ton zu geben. »In deiner Wohnung?«
»In deinem Kühlschrank ist nichts, was sich zu essen lohnt«, sagte er bestimmt. Das stimmte. Es stand eine Musterschachtel von jedem wichtigen Chocolatier der Stadt darin – außer von ihm natürlich. Die befanden sich ohne Ausnahme bei dem Obdachlosen im Park. Aus dem Klang seiner Stimme schloss sie, dass er ihren Kühlschrank geöffnet und die Schachteln der anderen Chocolatiers gesehen hatte. »Also wird es wohl auf meine Wohnung hinauslaufen.«
20
Er traf sie vor der Chocolaterie, wo sich eine lange Schlange gebildet hatte. Das Laboratoire hatte bereits geschlossen, der Laden aber war noch bis neun Uhr geöffnet.
»Meinst du, ich sollte dir Provision zahlen?«, fragte Sylvain. »Dich dabei zu erwischen, wie du meine Schokoladen klaust, war das Beste, was dem Geschäft – außer mir selbst natürlich – bisher passiert ist.«
Sie sah ihn gekränkt an.
Er presste amüsiert die Lippen aufeinander und führte sie zu seiner Wohnung, wobei er kurz bei einer boulangerie anhielt, um ein Baguette zu kaufen. Sie beobachtete ihn neidisch. Er machte das so unbekümmert, als sei es für ihn so normal wie Atmen, auf dem Nachhauseweg an einer boulangerie zu halten und ein Baguette zu kaufen. Was es natürlich auch war.
»Es kommt gerade frisch aus dem Ofen.« Er hielt es ihr hin, damit sie an dem Vergnügen teilhaben konnte. Sie zog einen Handschuh aus, schloss ihre Hand um das Brot und spürte die Wärme des langen, dünnen Laibs durch das kleine Papierquadrat, das der Bäcker darumgewickelt hatte.
Er brach ein Stück ab und gab es ihr, es war knusprig und warm. Sie lächelte, als er auch für sich ein Stück abbrach. Er erwiderte ihr Lächeln. »Es geht nichts über frisches Brot, das gerade aus dem Ofen kommt.«
Er wohnte ein paar Häuserblocks von seiner Chocolaterie entfernt in der Rue Piétonne, wo sie ihm im Restaurant begegnet war, allerdings am anderen Ende.
Die Wohnung sah nett aus. Sie war wie sein Laboratoire sauber und ordentlich, alles war an seinem Platz. Aber im Laboratoire wischte er die
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