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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Autos gestohlen werden, und zwar neuerdings ältere Modelle.
    Einige Schlagzeilen: Tote bei Protesten in Burma. – Die Welt in Lautschrift (die wird dem Bush in seine Redemanuskripte reingeschrieben, weil er sonst die fremden Namen nicht aussprechen kann. Ist über Internet in die Welt posaunt worden.) – Stimmungsumschwünge vor der Wahl (in Polen). – Union gegen Mindestlohn für Briefträger. – Reform der Erbschaftssteuer verzögert sich. – 5,7 Milliarden Euro gegen Aids, Malaria, Tbc. – Irans Präsident will UN -Resolution ignorieren. – Unterhalt nach Scheidung kann befristet werden. – Jedes vierte Kind fühlt sich häufig krank. – Lehrer verzweifelt gesucht (in Berlin). – Blauzungenkrankheit gefährdet Tierparks. – Platte Reifen für ein besseres Weltklima (Umweltaktivisten lassen massenhaft Luft aus Autoreifen). – Die NPD kommt nicht nach Rauen. – Drehverbot für Hollywood in Sachsenhausen. – Steinzeitbauern bewässerten ihre Felder. – Balsam für kranke Gelenke. (Ein neues Mittel. Gilt anscheinend leider nur für Arthritis, nicht für Arthrose. Und muß auch früh angewandt werden: Bei mir ist es aber inzwischen so weit, daß ich das Laufen überhaupt scheue und den neuen Treppenlift eben auch nicht dafür benutze, jeden Tag runterzufahren und dann ein Stück zu laufen.)
    Im Feuilleton: Rezensionen zu dem neuen Film mit Jodie Foster. »Die Fremde in dir«, eine Frau, Zeugin eines Mordes. Muß ihr Leben verteidigen, indem sie selbst tötet – wird als fragwürdiges Modell beschrieben. – Akademie der Künste erwirbt Otto-Nagel-Archiv. – Die Erkaltung des Herzens – Rezension zu Julia Francks neuem Roman »Die Mittagsfrau«. (Er würde »Scheinwelten« schaffen.) – Distanz nach allen Seiten: Zu Peter Merseburgers Augstein-Biographie, die Gerd sehr gut findet. – »Ach Quatsch, ich wollte an Weiber ran« – Bekenntnisse von Harald Schmidt in der » ZEIT «. – Wieder nur eine falsche Spur: Foto aus Marokko zeigt nicht die vermißte Madeleine.
    Ungewöhnlicherweise kommt so früh schon – es ist erst zehn Uhr – Paketpost, ein Paket aus Woserin, in dem Andrea (als »Frau Klein«) uns Post nachschickt. Einen Brief und Gedichte von Blanche Kommerell, die fälschlicherweise dachte, ich sei in Ahrenshoop in der Reha-Klinik, und mir gute Besserung wünscht, eine Leserin schickt ein Buch, in dem sie ihre »Psychosen verarbeitet«, und ich sehe mit einigem Unbehagen, wie sich diese Erlebnisberichte von Lesern, die sichergar nicht uninteressant sind, wieder bei mir stapeln. Und ich nicht dazu komme, sie zu lesen und darauf zu reagieren, was die Absender natürlich erwarten.
    Zu meiner Überraschung, die ich mir aber nicht anmerken lasse, hat Gerd sich bei Walbusch ein weißes, hochgeschlossenes Hemd bestellt, eine Art Frackhemd, und Stoffproben, die in einer Art Broschüre erscheinen, die er wieder zurückschicken muß! Er verkündet, daß es zum Mittag »Geschnetzeltes mit Gemüse« geben werde, ein eigenes Rezept! Das Gemüse hat er schon rausgelegt, nun fängt er an, die Putenbrust zu schnetzeln und anzubraten.
    Ich gehe durch die Wohnung, mache die Betten, öffne alle Fenster. Vom Wohnzimmerfenster aus sehe ich unten eine blonde junge Frau vorbeigehen, mit weißer Jacke und schwarzer Hose, neidvoll sehe ich, wie sie mühelos läuft, als sei das selbstverständlich.
    Ich tröste mich: Als ich so alt war wie sie, konnte ich das auch.
    Auf dem Sims vor meinem Fenster liegen drei schön geformte gelbe Lindenblätter. Das ist der Herbst, denke ich. Ein Wind geht, die Blätter im Garten rauschen, als würde es regnen.
    Es ist elf Uhr. Wie meistens sitze ich so spät erst am Schreibtisch. Wie immer muß ich eine Hemmung überwinden, um an den Text heranzugehen, der seit fast zwei Wochen – seit wir aus Woserin zurückgekommen sind – »ruht«. Zuerst schnappe ich noch eine Nachricht auf: Innenminister Schäuble hat das Geld für die Radweltmeisterschaft in Stuttgart storniert – wegen der Dopingkalamitäten dieses Sports. – Dann hole ich mir einen Termin beim Ohrenarzt, der mir wahrscheinlich ein Hörgerät verschreiben muß – erst Mitte November. Dann ruft Annette noch an: Na, wie geht's. –Sie arbeitet heute erst nachmittags. Nein, so richtig schön ist es nicht alleine – Honza hat ein dreimonatiges Aufenthaltsstipendium in Wiepersdorf –, sie sei nicht dazu geschaffen, alleine zu sein. Ach, das trübe Wetter störe sie nicht, im Gegenteil:

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