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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Sie ärgere sich immer, wenn draußen schönes Wetter ist und sie drinnen sitzen muß. Sie will noch Tinkas Nummer in Hamburg haben, um ihr morgen gratulieren zu können. Sie selbst muß nach Jena, einen Vortrag halten, und werde dann das Wochenende in Leipzig verbringen.
    Noch eine Abhaltung erlaube ich mir: Hanjo Kesting hat ein Buch geschickt, das er im Wallstein Verlag herausgegeben hat. »Begegnungen mit Hans Mayer. Aufsätze und Gespräche«. Ich blättere, stoße in einem Gespräch auf den Begriff » DDR -Literatur«, auf Kestings Frage: Wie groß war der Anteil der Intellektuellen und Künstler am politischen Wandel? Mayer weist auf die Französische Revolution hin, ihre gedankliche Vorbereitung durch die Aufklärer. »Ich glaube, ganz ähnlich sind die Dinge in der DDR verlaufen. Natürlich haben die Künstler die Ereignisse nicht ›gemacht‹, aber sie haben ihren Anteil daran … Und die Kundgebung auf dem Alexanderplatz mit Autoren wie Christa Wolf, Stefan Heym, Christoph Hein war ein großer Augenblick …« Kein Kommentar.
    Endlich hole ich mir meinen »Stadt-der-Engel«-Text auf den Bildschirm. Gestern habe ich in alten Tagebüchern gelesen, daß ich schon damals, 2004, mich des Herumtrödelns, der Faulheit, der Angst vor dem Manuskript bezichtige. Fast tröstet mich das: So liegt darin vielleicht nicht nur subjektives Unvermögen, sondern eine Art von unvermeidbarer Gesetzlichkeit? Ich lese den letzten Abschnitt: Die Fahrt mit Therese und Peter Gutman »zu den Häusern der Emigranten«. Hat so nicht stattgefunden: Nicht mit diesen Begleitern, sondern mit Herrn Schnauber, aber ich wollte nicht noch eine Person einführen, und ich wollte Gelegenheit zu Gesprächen schaffen, die eben nur mit diesen Personen möglich waren: Gehört zu dem immer zunehmenden Erfindungsrausch, skrupellos weiche ich, je länger, je mehr, von der schlichten naturalistischen »Wahrheit« ab, das werden die Protagonisten, wenn sie sich in diesem Text finden, mit Befremden zur Kenntnis nehmen. Ich suche einen Anschluß für dieses Kapitel.
    Telefon: Bin ich dort richtig beim Friseur Wolf?
    Im Radio: Sechzehn Nationen beraten auf Einladung von Präsident Bush über die Senkung der Emission von Treibhausgasen (Deutschland der siebtstärkste Verschmutzer!). Bush verhindert gemeinsame, von der UNO verabredete Maßnahmen und setzt auf technische Verbesserungen und auf neue Atomkraftwerke. »Ab heute beginnt eine neue Epoche der Menschheit!« – Die Geldsumme für Kriegsausgaben hat er im Haushalt für das nächste Jahr beträchtlich erhöht. Ein hoffnungsloser Fall – die Einsicht der Amerikaner, daß man das Luxusleben so nicht weiterführen kann, wird sehr, vielleicht zu spät kommen.
    Es ist halb zwölf. Mich überfällt unabweisbare Müdigkeit, wie kann man um diese Zeit schon so müde sein. Ich sinke auf meinem Schreibtischstuhl zusammen, schlafe ein – vielleicht zehn Minuten. Schrecke auf, als Gerd reinkommt und fragt: Wie ist das Fremdwort für Rechtschreibung? – Orthographie! stammle ich geistesgegenwärtig. Und er, mißtrauisch: Orthographie? (Mein Computer akzeptiert die Schreibweise mit »f« anstatt mit »ph« nicht, er unterstreicht sie vorwurfsvoll mit seiner roten Wellenlinie.)
    Gerd bricht auf zu seinem alltäglichen Einkaufsgang, um den ich ihn beneide, ich wende mich wieder meinem Text zu. Es gibt eine Liste, auf der die Episoden aufgeschrieben sind, die ich eigentlich noch unterbringen muß, aber ich merke, daß zuviel Stoff da ist, den ich noch beseelen und organisieren muß und den ich wohl nicht vollständig unterbringen kann. Den Engel werde ich hin und wieder auftauchen lassen – ob das geht? Ob das bleibt?
    Ach, Radio. Große Brandrodungen in Brasilien, bei denen viel CO 2 entsteht. Wieviel Obst und Gemüse muß man täglich zu sich nehmen – fünf Portionen, etwa sechshundert Gramm. Schaffe ich wohl nicht immer. Dann werden alle Krankheiten aufgezählt, gegen die Obst und Gemüse helfen oder vorbeugen, es ist fast alles, was uns bedroht.
    Gerd bringt die Post, ein großes Paket, hauptsächlich Kataloge, es werden immer mehr, da sie sich anscheinend die Adressen gegenseitig verkaufen: »Börsenblatt«, Jokers, Eurotops, Torquato – in diesen Katalogen zu blättern und Zeichen zwischen die Seiten zu legen gehört zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Die zweite Masse der Post besteht aus Einladungen zu Ausstellungen, das ist unglaublich, wie viele Künstler an wie vielen Tagen in wie vielen

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