Ein Tag im Maerz
klingt, wie er sich benimmt – das macht mir zu große Angst. Ich habe das Gefühl, wenn ich ihm begegne oder ihn nur irgendwo sehe, dann explodiere ich vor Wut. Es verbirgt sich zu viel unter der Oberfläche, wenn ihr versteht, was ich meine … Er ist zu meiner größten Angst geworden.« Wieder war sich Bryony der Kinder bewusst, die sie von draußen hörte: das Aufprallen eines Balls, der über das harte Pflaster gedribbelt wurde.
Ihre größte Angst. Ein verschwommenes Gesicht, das sie in ihren Albträumen heimsuchte, wenn die Füchse die Mülltonnen plünderten und die Obdachlosen in ihren Hüllen aus den Zeitungen von gestern zitterten. Aber die Fantasie arbeitet oft ohne unsere Hilfe, dachte Bryony, und lässt uns in ihrem Kielwasser zurück, während sie Bilder malt und Geschichten erzählt, die in der wirklichen Welt vielleicht, vielleicht aber auch nicht pas siert sind. Und ihre Fantasie hatte bereits ein Bild des Mannes geschaffen. Sie sah ihn als Mittdreißiger, ein grober Typ, ein Degenerierter, ein Drogensüchtiger vielleicht. Er hatte blasse Haut und blondes Haar und zeigte keinerlei Reue für das, was er Max angetan hatte.
Manchmal träumte Bryony, dass dieser Mann, dieses Monster, in der realen Welt unterwegs wäre, im Supermarkt Pflanzenöl und Klopapier kaufte oder im Laden an der Ecke eine Ausgabe der Sun. Sie versuchte dann, ihm Fragen zu stellen, ihn zu schlagen, ihn niederzuprügeln, aber er löste sich auf oder verblasste oder verschmolz mit dem Hintergrund, und alle ihre Fragen blieben unbeantwortet.
Sharon ergriff wieder das Wort; ihre Stimme klang rau, als sei ihr nicht ganz wohl. »Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, herauszufinden, wer er ist?«, fragte sie. Ihre Wangen hatten einen satten Rosarotton, der zu ihrer leuchtend fuchsiafarbenen Bluse passte, die sie zu einer eleganten schwarzen Hose trug.
Bryony war nicht bereit. Ihr Herz klopfte heftig. »Nein, das bezweifele ich.«
Sharon gab darauf keine Antwort und presste die Lippen fest zusammen.
Sharon selbst war ebenfalls nicht bereit, etwas mehr preiszugeben, und aus diesem Grund fand Bryony sie noch interessanter als alle anderen.
Die Sitzung ging rasch vorbei, zum Teil, weil das Gespräch leichter zu gehen schien – die Leute gaben nicht mehr so sehr acht auf alles, was sie sagten –, zum Teil aber auch, weil Bryony es kaum abwarten konnte, zu Adam zu fahren und mit ihm Scrabble zu spielen.
Als sie gehen wollte, rief hinter ihr jemand ihren Namen.
»Mel?«
Bryony drehte sich sofort um. Sie hatte sich an ihren neuen Namen und ihre neue Identität gewöhnt. »Ja?«
Sharon stand vor ihr. Mit einer Hand wühlte sie in der Handtasche, die sie mit der anderen an der goldenen Kette im Stil der Achtzigerjahre hielt. Sie hatte ihr dichtes Haar straff zurückgebunden, und es glänzte in dem Sonnenstrahl, der durch ein Oberlicht einfiel.
»Sag einfach Nein, wenn es dir unangenehm ist, aber mir hilft es, mit dir zu reden, und ich würde mich gern einmal auf einen Kaffee mit dir treffen – du weißt schon, außerhalb von … na ja, dem hier.« Sharon wirkte nervös und verletzlich. Sie zog ein Handy hervor, als hoffte sie, dass sie gleich die Nummer hätte, die sie beide verband.
Bryony überlegte. Täte ihr das gut?
In Sharons Augen war ein gewisses Maß an Verzweiflung zu sehen.
Bryony lächelte. »Ja, sicher.« Sie streckte die Hand aus, nahm von Sharon das Handy an und gab ihre Nummer ein.
»Ich danke dir so sehr«, sagte Sharon unter Tränen, drehte sich um und ging rasch davon, als wäre sie von ihren Gefühlen überwältigt.
Alle waren mittlerweile gegangen, und Bryony stand allein im Gang. Ihr Blick glitt über die Stapel aus Faltblättern, die Menschen zu einer Vielzahl von Problemen Hilfe anboten – Schulden, Misshandlung, Drogen … Aber wo war das Faltblatt für sie? Das Faltblatt, das ihr die Antworten auf die vielen Fragen nannte, die sie noch hatte? Wo war die Broschüre für die Menschen, die ohne ihre Liebsten verloren waren, die ihnen durch grausamen, plötzlichen und vorzeitigen Tod genommen worden waren?
Bryony sah nicht eine einzige, und deshalb drückte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die schwere Tür, überquertedie Straße und sprang in den Bus der Linie 259. Ihr Atem schlug sich traurig auf der schmutzigen Fensterscheibe nieder.
Auf das Kondensat schrieb sie mit dem Zeigefinger drei Buchstaben:
M
A
X
34
Sie fragte sich, wohin sie gehörte.
Dienstag, 11.
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