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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Thompson
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seine Mutter sich nicht meldete, und er fragte sich, ob sie ihn nicht länger in ihrer Familie haben wollte. Er hatte alles infrage gestellt, was er über die Beziehung zu seiner Mutter wusste, deren Nachsicht und außerordentliche Geduld normalerweise keine Grenzen kannten.
    Hatte sie Angst vor ihm? Der Gedanke war der beklemmendste von allen.
    Der Abend gehörte ohne Zweifel zu den schlimmsten, die Keon bisher im Gefängnis erlebt hatte. Gegen zehn Uhr hatte er versucht einzuschlafen, doch der ganze Lärm in seinem Kopf hatte ihn wach gehalten, mit aufgerissenen Augen wie eine Eule, während er die Beine in den kratzigen Laken verlagerte. Es war erst halb zwölf, doch er hatte das Gefühl, er würde noch eine ganze Weile wach bleiben. Er hätte heute einen normalen Abend zu Hause verleben können und wäre jetzt in seinem Bett eingeschlafen, wenn es nicht gekommen wäre, wie es gekommen war.
    Jetzt, wo er es nicht mehr tun konnte, malte Keon sich aus, was er tun würde, wenn er zu Hause wäre.
    Vor zwei Wochen war der achtunddreißigste Geburtstag seiner Mutter gewesen. Er vergaß allmählich den Klang ihrer Stimme, aber an ihre Hände erinnerte er sich noch. Seine Mutter hatte zierliche schmale Hände. Wäre er zu Hause gewesen, hätte er ihr so viele Filme von David Attenborough auf DVD gekauft, wie er nur konnte. Sie liebte sie.
    In seiner stillen Isolation hatte Keon begriffen, dass er immer ziemlich selbstsüchtig gewesen war, was Geschenke anging. Jahr für Jahr hatte seine Mutter sich den Rücken krumm geschuftet, um ihm kaufen zu können, was er sich wünschte, obwohl sie es sich eigentlich nicht leisten konnte. Spielekonsolen, teure, aber hässliche Trainingsschuhe, T-Shirts, die er ganz unten im Wäschekorb liegen ließ, bis sie stanken. Er hatte nie richtig begriffen, weshalb sie das alles tat   – bis jetzt.
    Und seine Schwester   … Seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, hatte sie sich wahrscheinlich so sehr verändert, dass es ihm Angst machte. Keon erinnerte sich an ihre wirklich langen Wimpern   – er hatte sie deswegen immer »Giraffe« genannt, und das hatte sie verabscheut. Sie war so schön, seine Schwester, und er war immer wütend geworden, wenn sie wegen Jungs geweint hatte, denn Jungs waren dumm, und sie sollte darüberstehen. Sie sollte mehr von der Welt erwarten als dumme Teenager. Jetzt konnte er nichts mehr für sie tun. Junge Männer konnten sie verletzen, sie an der Nase herumführen   – eingesperrt konnte er ihr kein Bruder mehr sein.
    Er schwor, wenn er sich nach Hause zurücktransportieren könnte, dann würde er den Abendbrottisch decken, statt in der Trainingshose vor dem Fernseher zu sitzen wie früher und sich Schokolade hineinzustopfen, ohne auf die Bitten um Hilfe seiner Mutter aus der Küche zu achten. Er würde einkaufen gehen, wennsie entdeckte, dass sie etwas vergessen hatte mitzubringen   – das passierte ihr regelmäßig. Er würde auch seine Großmutter väterlicherseits besuchen, weil sie sich manchmal einsam fühlte und traurig wurde. Obwohl ihre Beziehung zu seinem Vater gescheitert war, hatte seine Mutter ihn immer ermutigt, seine einzige verbliebene Großmutter zu besuchen. »Sie kann nichts dafür, Keon, das darfst du nie vergessen   … du bist immer noch ihr Enkel«, hatte sie immer wieder zu ihm gesagt. Er würde seiner Oma ihren Lieblingskuchen bringen   – Puddingtörtchen   – und sie fest drücken, ihren zerbrechlichen Körper in seinen Armen spüren und zu verstehen versuchen, was Altwerden bedeutete und ob er es ihr irgendwie erleichtern könnte. Keon begriff, dass er sie nie wiedersehen würde. Niemals. Er würde niemals mehr ihre Nase sehen, die von braunen Sommersprossen bedeckt war, und sich ihre Vorträge anhören, wie man Frauen zu behandeln hatte.
    Er würde für andere Menschen etwas tun und zuhören, was sie zu sagen hatten. Einfach auf etwas anderes hören als seine eigene selbstsüchtige Stimme, die ihm sagte, was er für sich tun sollte, was ihn glücklich machte. »Ich, ich, ich«, flüsterte er und schloss die Hände fest zusammen. Die trockene Haut seiner Finger spannte sich über die Knöchel, und es entstanden scharfe, schmerzende Linien.
    Er würde auch für seine Tante Leah babysitten, damit sie mit ihrer Mutter ausgehen konnte und auch einmal Spaß hatte. Er stellte sich vor, wie sie in einer Bar die Köpfe zusammensteckten und kicherten und darüber scherzten, wie alt sie geworden waren, über Männer und ihre

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