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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Thompson
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verschränkte die Arme.
    »Emo.«
    »Bitte?«
    »Ach, egal. Schon gut, Mum«, flüsterte Rachel und wandte sich Rita mit verächtlicher Miene zu. Ihr fiel es unglaublich schwer, ihre Empörung zu verbergen.
    Rita kochte offensichtlich vor Wut. »Nein, Rachel, es ist nicht gut, verdammt noch mal.«
    Na, so was, dachte Rachel. Erst benutzt sie den Namen des Herrn im Zorn, und jetzt flucht sie geradezu. Es muss ihr ernst sein.
    »Und sieh es dir nur an, dein ganzer Nacken ist schmutzig von dem Zeug, und du hast sogar Flecken im Gesicht. Was machen wir denn jetzt mit dir?«, brüllte Rita. Sie verfiel immer mehr in hysterische Raserei.
    »Die Flecken kann ich überschminken. Kein Problem«, erwiderte Rachel ruhig und versuchte an ihrer Mutter vorbei das Bad zu verlassen, doch Rita trat ihr in den Weg. Rachel blieb stehen. Sie seufzte und ließ die zarten Schultern nach vorn sinken, dann streckte sie eine zierliche Hand aus und hielt sich am Waschbecken fest. Die Dämpfe waren ihr ein wenig zu Kopf gestiegen.
    »Warum ausgerechnet jetzt? Am Montag hast du deine erste Probe für Coppélia! Ich begreife das einfach nicht!«, schrie Rita und schlug die Hände vor den Mund. Bebend vor Zorn, tanzten ihre Augen geradezu, während sie sich bemühte, den Anblick des neuen Haares ihrer Tochter zu verarbeiten.
    »Mir war eben danach, okay?« Rachels Stimme hatte mehr als nur einen leicht trotzigen Unterton.
    »Na, warte nur, was das Ensemble sagt. Das wird keinem gefallen!«, rief Rita, während Rachel sie mit natürlicher Gewandtheit sanft zur Seite schob, die Treppe hinauflief und in ihrem Zimmer verschwand.
    Weder ihrer Mutter noch Richard hatte sie von dem Dokument erzählt, über das sie gestolpert war. Es war ihr einfach zu viel. Ein zu großes Thema, um es anzuschneiden. Sie hatte die Papiere in den Ordner gepackt und alles wieder dahin gelegt, wohin es gehörte, damit Rita nie erfuhr, dass ihr Geheimnis kein Geheimnis mehr war.
    Rachel war in eine Welt eingetreten, die sie nicht mochte. Sie hatte gewagt, in eine verbotene Schatulle zu blicken, und statt eine zierliche Modellballerina vorzufinden, die sich zu einer hübschen, blechernen Melodie an einem verdrillten Draht drehte, war sie auf etwas Dunkles gestoßen, das sie niemals vergessen könnte. In der Nacht war sie von hässlichen Träumen heimgesucht worden und hatte sich ruhelos hin und her gewälzt.
    Sie hatte sich angewöhnt, über den Esstisch hinweg ihrem Vater ins Gesicht zu starren. Wenn sie sich seine gefurchte Stirn und die Knollennase ansah, wenn sie eine geistige Fotografie seines Gesichts aufnahm und sich dann oben vor den Spiegel setzte, bemerkte sie, dass sie nichts mit ihm gemein hatte außer den vor Erschöpfung geschwollenen Augen   – und das lag mehr an ihrem Leben als an ihren Anlagen.
    Sie hatte gefragt, ob sie sich Fotos ihrer Mutter als junges Mädchen ansehen durfte, und weder in dem Gesicht noch der Gestalt der jungen Rita entdeckte sie irgendetwas, das darauf hindeutete, dass sie vom Fleisch dieser Frau sein konnte. Dieser Fremden. Und mit der Zeit dachte sie an die Familie. An alles, was man je zu ihr gesagt hatte. Die üblichen Floskeln auf den Dinnerpartys wie: »Hat sie nicht ganz die Jochbeine ihrer Mutter?«, gefolgt von: »Ach, vielleicht ähnelt sie doch mehr ihrem Vater.« Ihre Eltern hatten dann höflich gelächelt und das Thema gewechselt, ihre Gläser mit perlendem Champagner gehobenund sich mit einem gewissen Einvernehmen in die Augen gesehen.
    Wer wusste Bescheid? Wusste es jeder außer ihr? Hatten es ihre Lehrer auf der Schule gewusst? Ihre Ärztin? Gab es einen Club? Einen geheimen Händedruck? Anstecknadeln und bedruckte T-Shirts sogar? Und dann stach Rachel in ein völlig anderes Wespennest: Sie fragte sich, wo ihre echte Mutter war   – ob sie überhaupt noch lebte. Ob sie noch mehr Babys bekommen hatte und nun eine neue Familie besaß, ein Ersatz für die Tochter, die sie im Stich gelassen hatte?
    Warum hatte ihre echte Mutter sie aufgegeben, als sie nur ein armes, wehrloses Baby war, zu klein, um zu sündigen, zu klein, um unerträglich und störend zu sein, zu klein, um nicht liebenswert zu sein   – zu klein, um verstoßen zu werden? Und wie war es abgelaufen? War sie bei dunkler, stürmischer Nacht jemandem in einem Weidenkorb vor die Tür gelegt worden? Oder war sie von einer schluchzenden, minderjährigen Mutter, die einfach zu jung war, um mit ihr fertigzuwerden, einer Sozialarbeiterin übergeben worden?
    Am

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