Ein Tag im Maerz
Höhepunkt ihrer Verletzung und Verwirrung hatte der Zorn sich geregt, den hässlichen Kopf gehoben wie ein Meeresungeheuer, das am Grund der See lebte, und die grausamen Zähne gezeigt. Daraufhin stellten sich Schuldgefühle ein, und sie lag um drei Uhr morgens wach, lauschte dem Schweigen und überlegte, wie Rita und Edward, wer immer sie waren, sie aufgenommen und ihr alles gegeben hatten, obwohl sie nicht ihr eigen Fleisch und Blut war. Und Rachel war nicht immer gut zu ihnen gewesen: Sie knallte mit den Türen, sie rauchte, sie stritt sich so laut mit ihrer Mutter, dass die Nachbarn es hörten, verursachte hochrote Wangen bei Elternabenden und kritzelte ihre Entschuldigungen auf die Rückseiten zerknitterter Kassenbons.
Sollte sie Rita, ihrer »Mutter«, offenbaren, dass sie Bescheidwusste? Oder sollte sie ebenfalls ihre Geheimnisse bewahren und das Gleichgewicht nur ein wenig verschieben …
Rachel schaltete ihren Föhn ein und begann sich das Wasser aus dem Haar zu blasen, bis ihre weichen, schwarzen Locken schimmernd unter der Feuchtigkeit hervorkamen. Ihr Haar flatterte in unterschiedliche Richtungen wie Bänder an einem Modellflugzeug. Als sie fertig war, musste sie entdecken, dass ihr Haarspliss weiß hervorstach. Ihre Haare sahen nun spröde und trocken aus, und ihr Gesicht wirkte dadurch ausgezehrt und müde.
Ihr gefiel es sehr gut.
Sie trug Lippenstift in einem dunklen Mauve auf und schmollte in den Spiegel. Fast war ihr schon entfallen, wie sie ausgesehen hatte, als sie noch ein Mädchen war, das viel zu wenig über sich gewusst hatte. Sie fletschte mehr die Zähne, als dass sie lächelte, und bemerkte, dass ein wenig Lippenstift an einem Zahn klebte. Rasch wischte sie den Fleck mit dem Zeigefinger weg.
Wieder störte sie Rita, indem sie durch die Tür in ihr Zimmer kam, in der Hand ihr Uralt-Handy. Jeder sonst hatte ein BlackBerry oder ein iPhone oder etwas Ähnliches, doch Rita hielt an ihrem altmodischen Nokia fest, weil es größere Tasten hatte und die Bedienung nicht so kompliziert war.
»Du siehst entsetzlich aus, Rachel«, sagte sie und tappte mit dem Fuß auf den Teppich, wie sie es immer tat, wenn sie furchtbar wütend war. Ihr Gesicht passte von der Farbe her zu ihrer rosaroten Bluse. »Mir reicht es. Ich rufe das Ensemble an und erkläre, was du getan hast. Irgendwie müssen wir die Situation bereinigen.« Unbewusst zupfte sie sich selbst am Haar.
»Na, wenigstens sehe ich dir jetzt ein bisschen ähnlicher, was, Mum?«, fragte Rachel und blickte sie unverwandt an.
Ein kalter Schauder rann Rita den Rücken hinunter, doch siedrückte den Rufknopf an ihrem Handy. Rachels Verhalten ließ sich nur damit erklären, dass etwas Schlimmes vorgefallen war, aber sie konnte sich nicht vorstellen, was das sein sollte.
Rachel fragte sich, ob sie den Anruf vielleicht unterbrechen konnte. Sie wusste sehr gut, dass sie wegen ihrer neuen Haarfarbe große Schwierigkeiten mit dem Ballettensemble bekommen konnte, doch es war, als wäre sie zeitweise unter Trance gewesen. Irgendwie hatte sie geschafft, sich zu versichern, es wäre in Ordnung, sich die Haare schwarz zu färben. Sie hatte sich getäuscht, so wie jeder sie die ganze Zeit getäuscht hatte. Wenn ihre Mutter nicht anrief, konnte sie am Montagmorgen vielleicht zu einem sündhaft teuren Friseur gehen und sich die Haare wieder blondieren lassen. Vielleicht war es sogar möglich … Swanilda war gewöhnlich sowieso brünett. Vielleicht wäre man sogar mit ihr zufrieden, wie sie war … Nein. Wahrscheinlich nicht.
Sie musste in dieser Sache auf ihrem Standpunkt beharren, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Ritas linke Augenbraue zuckte vor Wut, als sie ihre Tochter ansah, die auf dem Boden saß und an einen Ghul erinnerte, aber dennoch unfassbar schön war.
Ihre Blicke trafen sich, während es im Handy immer wieder piepte, ohne dass jemand abnahm. Schließlich legte Rita auf und klatschte sich das Gerät frustriert auf die Handfläche. »Du benimmst dich wirklich unerträglich, Rachel. Was ist los?«, fragte sie nach kurzem Schweigen. Im letzten Satz wurde ihr Ton ein wenig weicher, ein Versuch, ihrer Tochter wenigstens eine Antwort zu entlocken – der Tochter, die stärker aus der Bahn zu schlittern schien denn je.
Rachel erhob sich, ohne ihre Hände zu benutzen – eine Bewegung, die jeder, der nicht mehr als ein Jahrzehnt lang in den Künsten des Balletts geschult worden war, fast unmöglich bewältigen konnte –, und
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