Ein Tag im Maerz
nicht die Absicht gehabt abzudrücken. Dass er nur jemandem Angst einjagen wollte. Wie er den Schuss hörte und nicht glauben konnte, dass er es getan hatte, und was als Nächstes kam … Tynice war nicht dabei gewesen. Sie begriff es nicht. Sie glaubte nicht, dass sie es je würde begreifen können. Sie war noch immer unglaublich wütend auf Keon. Rasend zornig.
Sie fragte sich, ob es ihre Schuld war, weil sie ihm Computerspiele gekauft hatte, in denen geschossen wurde – ob sie ihm unbeabsichtigt beigebracht hatte, dass ein Finger nur eine Bewegung machen konnte, wenn er einen kühlen, harten Abzug spürte.
Doch andererseits hätte sie nie gedacht, dass er hingehen und sich tatsächlich eine Waffe beschaffen könnte.
»Keon Hendry. Sehen Sie mich bitte an«, sagte Richter Layner. Im grellen Licht des Gerichtssaals glänzten seine schmalen Wangen. Er hatte kalte, glasige Augen, die aussahen, als machten sie keine Gefangenen.
Tynice empfand plötzlich ein starkes Bedürfnis, ihm Bilder ihres kleinen Jungen zu zeigen, wie er aufwuchs, ihm zu erzählen, welche Herausforderungen er bewältigt, welche Hürden er überwunden hatte. Ihn irgendwie menschlicher zu zeichnen. Gleichzeitig fühlte sie sich schuldig für ihren Wunsch, andere Menschen sollten das Gute in Keon erkennen, von dem sie genau wusste, dass es vorhanden war. Als fromme Frau glaubte sie schließlich an die Gerechtigkeit. Dennoch behütete sie in sich irgendwo eine Kerze der Hoffnung.
»Keon Hendry, noch einmal: Sehen Sie mich bitte an«, forderte der Richter ihn erneut auf und bedachte ihn mit einem wütenden Blick.
Obwohl der Satz mehr ein Befehl als eine Bitte war, triefte er von dem üblichen Zynismus eines Strafrichters, der einen jungen Mann vor sich sah, dessen Leben er gleich die Toilette hinunterspülen würde.
Keon hob den Kopf. Seine ängstlichen, niedergeschlagenen Augen zuckten nervös durch den Gerichtssaal. Seine Körpersprache, seine Haltung hatten jedoch etwas an sich, das verriet, dass er stark genug war, um das Kommende zu nehmen wie ein Mann. Dass er seine niederschmetternde Strafe nicht mit Augenrollen und Jammern und Wehklagen entgegennehmen würde. Darüber empfand Tynice einen Augenblick lang Stolz. Vielleicht hatte sie doch etwas richtig gemacht und ihnzu einem Mann erzogen, der für sein Tun die Verantwortung übernahm. Für diese Empfindung fühlte sie sich augenblicklich wieder schlecht. Wie konnte sie stolz auf einen Sohn sein, der einem anderen Menschen das Leben genommen hatte? Das verstieß gegen alles, woran sie glaubte. Ob er sich zu seinen Sünden bekannte oder nicht, den »Stolz« seiner Mutter hatte er nicht verdient.
»Keon Hendry, das Gericht hat in den letzten Tagen sämtliche Einzelheiten Ihres Falles angehört. Bei der Findung Ihres Urteils haben wir sowohl Ihre Verteidigung in Betracht gezogen als auch den Umstand, dass Sie sich von Anfang an schuldig bekannt haben. Doch leider bleibt die Tatsache bestehen, dass Sie einem unschuldigen Menschen grausam das Leben genommen und ihn seinen Freunden, seiner Familie und allen geraubt haben, die ihn kannten und schätzten.«
Tynice war übel.
Das Kratzen von Stiften auf Papier wirkte recht laut in der Stille des Saales, in dem nicht mehr als zwanzig Menschen saßen. Tynice kannte die anderen nicht. Vielleicht waren es Freunde von Max Tooley, Familienangehörige? Für Keon gab es nur wenig Unterstützung: nur sie.
»Daher, Mr. Hendry, werden Sie zu einer Haftstrafe von fünfzehn Jahren verurteilt. Haben Sie noch etwas zu sagen?«, fragte der Richter.
Das Schweigen, das einsetzte, wurde von Tynice gebrochen, die heftig zitternd in ihr Taschentuch weinte. Und dann war sie mit einem Mal auf den Beinen. »Keon! Du dummer, dummer Junge!«, brüllte sie und schlug mit der Faust auf die Lehne der Bank vor sich. Ihr war klar, wie hysterisch und unpassend sie sich verhielt, doch sie konnte sich nicht beherrschen. Tynice kam es vor, als befände sie sich außerhalb ihres Körpers und beobachtete eine Irre dabei, wie sie die Kontrolle verlor.
Keon weckte diesen Zorn in ihr, weil er alles verschwendet hatte, was von ihr in ihn investiert worden war. Alle Liebe, mit der sie ihn erzogen hatte, war vergeblich gewesen.
Einige Geschworene hielten peinlich berührt den Blick gesenkt, während jemand Tynice sanft wieder auf ihren Platz zog.
Keon reagierte kaum, aber er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, was für den ganzen Saal eine Überraschung war. Seine Stimme
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