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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Thompson
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immer davon ausgegangen, dass es ihn nicht betraf, und er spielte dabei an seinen Schuhen, bis die Schnürsenkel ausfransten. Was seine Mutter sauer machte.
    »Ach, um Himmels willen«, sagte sie immer, wenn sie so etwas sah. »Da muss ich morgen in die Stadt fahren und neue holen.« Dann seufzte sie laut. Sie war, was diese Dinge anging, immer eine Perfektionistin gewesen, und sprach ständig davon, wie Keon und Reb aussehen mussten und sich wie eine »richtige« Familie zu benehmen hatten, eine gute Familie.
    Jetzt saß er mit all diesen Empfindungen eingesperrt hinter Gittern und musste lernen, mit ihnen zurechtzukommen.
    Keons Therapeut hatte ihn ermutigt, sich vorzustellen, wie diese Gefühle durch ihn hindurchrasten, jedes ein andersfarbiger Lkw auf einer verstopften Straße. Auf diese Weise könne er versuchen, sie voneinander zu trennen, sie zu visualisieren, ihnen Sinn zu entnehmen. Sie kamen sich jedoch ständig in die Quere, krachten auf dem Mittelstreifen zusammen und hinterließen nur scharfe, ineinander verkeilte Wracks, die Keon einfach nicht zu entwirren wusste.
    Um einen Anfang zu finden, hatte er begonnen, möglichst gerade Linien aufs Papier zu zeichnen und sich vorzustellen, sie wären Straßenmarkierungen, die verhindern sollten, dass die Lastwagen zusammenstießen. Für ihn stellte es die einzige Möglichkeit dar, halbwegs klar im Kopf zu werden.
    Von da an hatte er die Idee weiterentwickelt. Im Gefängnis hat man viel Zeit nachzudenken, und Keon fragte sich, ob es möglich war, dass er als fehlerhaftes menschliches Geschöpf eine perfekt gerade Linie zeichnete. Die Art Gerade, wie nur ein Computer sie erzeugen konnte. Ohne Buckel. Ohne Makel.
    Nachdem er einmal begonnen hatte, es zu versuchen, zeichnete er diese Linien immer mehr: Manchmal fielen sie gut aus, manchmal gerieten sie völlig daneben.
    Knicke in der Straße.
    Fast fließend ging er zu Kurven über. Er überlegte, was nötig wäre, damit er, ein vollkommen fehlerhafter Mensch, freihändig die perfekteste Kurve der Welt ziehen konnte. Eine Kurve, wie sie die Geräte zeichneten, die ein Spitzenarchitekt für seine Entwürfe benutzte. Am Ende genügte aber auch das nicht, um seine Gedanken im Zaum zu halten, und die Lastwagen brausten ihm weiterhin durch den Kopf, ganz gleich, wie sehr er versuchte, sich auf die unmögliche Aufgabe zu konzentrieren, die er sich gestellt hatte.
    Als Erstes war da der blaue Lkw. Er stand für Traurigkeit. Traurigkeit wegen des Mannes, den er getötet hatte, seiner Freundin, seiner Familie, seinen Freunden. Traurigkeit wegen seiner Mutter und seiner eigenen Familie und, er gestand es sich ein, seinetwegen. Eine Traurigkeit, die seinen Magen mit solch überwältigender Depression füllte, dass er nicht mehr wusste, was er mit sich anfangen sollte. Es war wie ein Schmerz überall auf der Haut, und er konnte nichts tun, um ihn zu lindern.
    Dann kam der rote Lastwagen. Rot stand für Zorn. Er war zornig auf Steve. Stinkwütend, um genau zu sein. Steve hatte ihn vor dem Prozess kein einziges Mal besucht, und er war wie ein Feigling geflohen, nachdem etwas geschehen war, das   – davon war Keon überzeugt   – nie passiert wäre, wenn Steve ihn nicht so sehr unter Druck gesetzt hätte. Keon fand, dass Steve mitverantwortlich war, aber andererseits musste er zugeben, dass jederHäftling jemanden hatte, auf den er die Schuld schob. Er empfand auch Zorn auf den Mann, der ihm die Waffe verkauft hatte. Sein verschlagener Gesichtsausdruck spukte in Keons Albträumen herum: die Abschürfungen an seinen Fingerknöcheln, die von einem Kampf stammten, der noch nicht lange zurücklag, und die angesplitterten Vorderzähne. Wie der Kerl gierig sein Geld genommen hatte, ohne sich Gedanken um die Folgen zu machen. Seine größte Wut schließlich richtete sich gegen ihn selbst. Er verabscheute sich mittlerweile. Er hasste sein eigenes Gesicht, seine Füße, seine Beine und besonders seine Hände. Er konnte sich im Spiegel nicht mehr ansehen; wenn er sich die Hände wusch, hielt er den Blick zum Waschbecken gesenkt.
    Als Nächster kam der grüne Lastwagen. Eifersucht. Eifersucht auf all die braven Jungen, die von Anfang an getan hatten, was sie tun sollten, Eifersucht auf ihre strahlende Zukunft, die tolle Hochzeit, die ihnen bevorstand, den ersten Schrei ihres neugeborenen Kindes. Keon hungerte so sehr nach Freiheit, nach den Herausforderungen des Alltags, dass selbst das Heulen einer Polizeisirene aus der Entfernung ihn

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