Ein Tag im Maerz
erfolgreich gelöscht.
Im Halbdunkel starrte er die E-Mail an und betete, dass Sara eines Tages begriff, was wirklich los war.
14
»Bitte setzen Sie sich.«
Freitag, 17. April 2009
Blackfriars Crown Court, London
11 Uhr
Schweigen senkte sich über den Gerichtssaal.
Ein junger Farbiger in Handschellen wurde von zwei Wachleuten zur Anklagebank geführt, die so stereotyp aussahen, wie es nur ging: Ihre Schädel waren rasiert, und unter den blauen gestärkten Hemden schauten die Ränder von Tattoos hervor.
Doch sie war die Mutter des jungen Farbigen. Er war ihr kleiner Junge. Tynice hatte an jedem Verhandlungstag im Gericht gesessen und zugehört, wie er zu erklären versuchte, dass alles nur ein Fehler war, dass er die Tat nicht hatte begehen wollen. Und wenn sein Verbrechen sie auch bis in den Kern ihres Seins abstieß, Keon war und blieb ihr Sohn.
Er hielt den Kopf gesenkt, und Tynice wollte ihn ohrfeigen und ihn gleichzeitig an sich drücken. Er hatte den Ausdruck eines jungen Mannes, dem klar war, was ihm blühte. Und dass es nichts Gutes sein konnte.
Ihr Junge im Gefängnis. Gott allein wusste, wie sie das Reb erklären sollte. Und der Familie. Und der Gemeinde. Sein Großvater hätte sich im Grab umgedreht, dachte sie und fuhr mit den Händen über das kalte Holz der Bank, auf der sie saß.
Keon ähnelte nicht den üblichen schwachköpfigen Schlägertypen, die versuchten, sich mit einem irrwitzigen Lügengespinst aus ihrer Anklage wegen Trunkenheit am Steuer herauszureden. Tynice hatte bereits Geschworenendienst geleistet; sie wusste, wie es ablief, und kannte den ganzen Blödsinn, den diese Leute absonderten: dass sie in ihr Auto gefallen wären, nachdem sie einen zu viel getrunken hätten, und versehentlich mit dem Ellbogen den Motor anließen. Oder die Männer mit den grobporigen roten Nasen vom jahrelangen Kampfsaufen, die behaupteten, der Kerl wäre ihnen im Pub in die Faust gelaufen, als sie gerade auf die Dartscheibe warfen … Blödsinn, Blödsinn, Blödsinn …
Jeder im Saal erhob sich, als der Richter hereinkam, der aussah, als wäre seine Perücke permanent an seinem Kopf festgeklebt. Er hatte ein schmales, schroffes Gesicht mit rasiermesserscharfen Zügen. Er räusperte sich, und plötzlich sackte Tynice der Magen ab, als säße sie in einer Achterbahn, während ihr das Blut in den Ohren rauschte. Heute wurde das Urteil verkündet.
Abgelenkt bemerkte Tynice, dass die Frau mit den strohigen Haaren, die ihr struppig vom Kopf abstanden, sie wieder anstarrte. Sie beobachtete und auf eine Reaktion wartete. Sie war die Frau, die Max Tooley gefunden hatte, als er blutend auf dem Gehsteig lag, und sie sah älter aus, als sie war. Tynice fragte sich plötzlich, ob das Auffinden des Sterbenden sie älter gemacht hatte; wie sie als Fremde die Hand eines Fremden hielt, während sein Leben aus ihm wich – solch ein Erlebnis musste einen bis zum eigenen Tod in den Träumen verfolgen.
Der Gerichtsdiener beäugte nervös die Journalisten, suchte nach Konterbande: Kameras, die im Saal verboten waren, Handys, mit denen sie Aufnahmen machen könnten, irgendein Anzeichen für Missachtung des Gerichts. Tynice hätte die Reporter am liebsten hinausgeworfen, damit sie aufhörten, über den Prozess zu berichten. Damit der Schaden, der ihrer Familie zugefügt wurde, sich in Grenzen hielt.
»Bitte setzen Sie sich«, sagte der Richter, und der Saal seufzte fast kollektiv vom Knarren der Sitze und dem Rascheln der Papiere, die auf Tischplatten und Schößen landeten. Die Reporter setzten sich mit gekrauster Stirn und Stiften in den Händen, warteten darauf, mit Blitzgeschwindigkeit zu schreiben, um dann im Büro ihre Notizen zu lesen und sich selbst zu verwünschen, weil sie sich in den ermüdenden Stenografiekursen nicht mehr am Riemen gerissen hatten.
Der Fall wurde seit drei Tagen verhandelt. Keon Hendry hatte sich von Anfang an schuldig bekannt, aber dennoch mussten Beweise vorgelegt und Formalitäten abgehandelt werden.
Tynice wurde von ihren Gefühlen überwältigt, ganz wie sie es erwartet hatte. Sie drückte sich ein Taschentuch vors Gesicht und versuchte, nicht laut zu schluchzen. Als sie aufsah, begegnete sie dem Blick ihres Sohnes.
Sie hatte noch nie so viel Angst gesehen.
Sie hatten alle Aussagen gehört, und Keons Verteidiger hatte betont, dass es sich um einen schrecklichen Irrtum gehandelt habe. Tynice kannte alle Gründe, alle Ausflüchte, alle Behauptungen: Er hätte überhaupt
Weitere Kostenlose Bücher