Ein Tag im Maerz
fuhr über die Prothese, für die Max bezahlt hatte, ganz wie versprochen.
Am Ende sprang Max von der Bühne in ihre Arme, völlig durchgeschwitzt. Seine Freunde zerrauften ihm das Haar und scharten sich um ihn. Er sah aus, als fühlte er sich wie der König der Welt. Als ein kleiner, drahtiger Kerl mit dicker Brille zaghaft auf die Bühne trat und einen Song von Bob Dylan zu massakrieren begann, flüsterte Max ihr ins Ohr: »Du bist meine Welt, Bryony Weaver.«
Darauf folgte ein High five mit Ben, der ihren kurzen, aber tief intimen Moment inmitten einer lärmenden Zechtour beendete. Sie küsste Max auf die Wange, spürte seine warme Haut und seine Bartstoppeln auf ihren weichen Lippen …
Und dann schreckte sie aus dem Schlaf hoch.
Keuchend.
Allein.
In der Dunkelheit.
Bryony war, als fehlte ihr etwas, so panisch schlug sie im Bett um sich, fuhr mit den Händen durch die Kissen und die Bettdecken, suchte nach Max. Aber er war nicht da.
Dann fiel es ihr wieder ein.
16
Ein Verbrecher.
Mittwoch, 6. Mai 2009
Flügel A, Gefängnis High Elms, Südwest-London
13 Uhr
Nur wenige Tage nach seinem Haftantritt begann Keon, mit Stift und Papier zu arbeiten.
Er war überrascht, wie viel Trost er fand, wenn der Kugelschreiber über das raue Papier glitt, das man ihm gab. Er entschied, dass ein schwarzer Bic mit mittlerer Spitze sein liebstes Schreibwerkzeug war. Er begann, solch kleinen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, nachdem man ihn wie ein Tier eingesperrt hatte, mit seiner Abscheu vor sich selbst und einer Handvoll gewaltbereiter Trottel als einziger Gesellschaft.
Doch an Kulis war im Gefängnis nur schwer heranzukommen; die Häftlinge konnten sie nur alle paar Tage im Laden kaufen. Die Leute borgten sie sich aus und gaben sie nie zurück. Sie wurden einem aus der Hosentasche gestohlen und unter Kissen und Matratzen versteckt. Keon war erstaunt, wie viele Kämpfe wegen Kugelschreibern geführt wurden.
Er hatte Glück, weil er eine Packung davon in verschiedenen Farben besaß, und er hütete sie, als hinge sein Leben davon ab. Es war eine Kleinigkeit, aber sie zeigte, wie verletzlich er war, was seine Gefühle anging. Er wusste überhaupt nicht, das begriff er erst jetzt, wie man mit Gefühlen umging. Er bekamTherapiestunden, und sein Therapeut grub allerlei Dinge aus seiner Vergangenheit aus.
Es hatte damit begonnen, dass sein Vater sie verließ, als Keon noch klein war. Nachdem er gesehen hatte, wie seine Mutter sich laut weinend auf dem Sofa zusammengerollt hatte, beschloss der zehnjährige Keon, dass er stark sein und nie seinen Gefühlen nachgeben würde, um seine Mutter durchbringen zu können. Für seine Tränen war kein Platz; diese Entscheidung hatte er aus eigenem Antrieb getroffen. Deshalb fiel es ihm schwer, sich den üblichen Empfindungen des Alltagslebens zu stellen. Liebe und Angst waren nun dehumanisierte Produkte; unter seiner Haut gefangen, brauten sie sich zu einem Sturm zusammen.
Mittlerweile befand sich alles auf einem vollkommen anderen Niveau. Er hatte Probleme. Unglaublich ernste Probleme. Probleme, die das Verlassenwerden durch den Vater wie einen Spaziergang erscheinen ließen. Probleme, die er allein sich und seinen Handlungen zuzuschreiben hatte. Er hatte sein Leben verpfuscht, und das anderer Menschen ebenso.
Seine Mutter hatte oft versucht, ihn dazu zu bewegen, mit ihr über »Gefühle« zu sprechen, und er hatte sich innerlich zusammengekrümmt; er war sogar wütend auf sie geworden. Jetzt begriff er, dass sie nur hatte verhindern wollen, dass es so weit mit ihm kam. Dass sie nicht gewollt hatte, dass aus ihm ein Idiot wurde.
Ein Verbrecher.
Ein Mörder.
Es gab noch andere Gefühle, mit denen er jetzt leben musste und die ihm die Fähigkeit zum klaren Denken nahmen. Die Sorge, die Traurigkeit, die Schuld – sie waren so stark, dass er es nicht einmal mit sich allein in einem Raum aushielt. Er konnte sich auf nichts konzentrieren. Die Empfindungen schwirrten ihm ständig durch den Kopf wie ein wütender Bienenschwarm.
Seine ersten Nächte hatte er in vollkommener Panik verbracht. Seine Brust hatte sich zusammengeschnürt, sobald ihm das Ausmaß seiner Taten bewusst wurde, und irgendwann hatte er begriffen, dass er es nicht träumte. Dass alles wirklich geschehen war. Sein schlimmster Albtraum war er selbst.
Keon dachte an die Schulveranstaltungen in den Jahrgangsstufen 7, 8 und 9 über Gewalt: Messer und Schusswaffen und dergleichen. Er hatte nie zugehört. Er war
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