Ein Tag im Maerz
Ein wenig war es ihm unheimlich, ihr im Dunkeln zu folgen, wenn Londons Trinker und Kleinkriminelle sich auf den Straßen herumtrieben und von einem Lokal zum nächsten zogen.
Tom schob rasch den Schlüssel in die dicke Stahltür und hörte das vertraute Knirschen, als er sich im Schloss drehte. Er musste erst ein wenig nach links ruckeln, dann nach rechts, und sich mit seinem Gewicht gegen die Tür stemmen, damit sie aufging. »Die Tür hat ihren eigenen Kopf«, so hatte der alte Vermieter es beschrieben, als er Tom am ersten Tag hereinführte; sein Atem hatte nach saurer Milch gerochen. Saure Milch war ein Aspekt des Ateliers an sich gewesen. Es hatte darin gestunken.
Das glänzendste aller Ateliers war es wahrhaft nicht, und es hatte mehrere Tage gedauert, es von Grund auf zu reinigen – er hatte sogar ein weißes Damenhöschen Größe 18 von Primark dort gefunden –, ehe er es benutzen konnte. Doch irgendwiehatte Tom es damit zu seinem eigenen gemacht. Er hatte das Atelier mit ausgefallenen Lampen und Möbeln aus kleinen Secondhand-Läden eingerichtet und farbenprächtige Drucke seiner Lieblingskünstler an die Wände gehängt. Für ihn war es eine Zuflucht, auch wenn die Inspiration in letzter Zeit nicht mehr fließen wollte – das Bier indes hatte es eindeutig getan, woran ein kleiner Haufen leerer Dosen neben der Tür erinnerte und in ihm ein leichtes Schuldgefühl auslöste.
Tom schloss die Tür hinter sich und legte die Jacke ab, schaltete ein paar Lampen an und setzte sich an die Arbeit.
In dem Augenblick traf ihn die Eingebung.
Mit seinem Agenten und befreundeten Künstlern hatte er Ideen und Themen für seine nächste Ausstellung diskutiert. Er wollte den »Zustand des Menschen« in jeder Form einbringen, in der sie in seinem Konzept Gestalt annahm. Es war ein gewaltiges Thema, das viele Arten von Arbeit beinhalten würde; Gefühle von Liebe bis Schuld und Wut. Diese Vielfalt und auch Freiheit hatten ihn ein wenig nervös gemacht, wenn er ehrlich sein sollte.
Er hatte verschiedene Ideen für die Gefühle skizziert und versucht, die Emotionen einzufangen, die jeder empfand, der auf Erden lebte und atmete, sei es ein Büroangestellter in London oder ein Stammeskrieger im australischen Outback. Doch er hatte Schwierigkeiten gehabt, seine Richtung verloren: Die Aufgabe wirkte zu groß für ihn, und nichts war ihm passend erschienen.
Doch hier sah er es direkt vor sich. Was er am meisten wollte.
Vergebung.
Vergebung für etwas, das er eigentlich nicht getan hatte. Für ihn stand fest, dass er seine Frau nie betrügen würde; allein der Gedanke war absurd. Aber er musste einsehen, dass seine Neugierde ihn in diesen Schlamassel gebracht hatte. Niemandschien zu glauben, dass er es nicht hinter Saras Rücken mit anderen trieb, nicht einmal sein bester Freund.
Sara nahm seine Anrufe nicht entgegen, deshalb musste er irgendwie ihre Aufmerksamkeit erregen.
Er drückte »Play« auf seinem alten, farbbespritzten CD -Player und spielte Colour it in von den Maccabees mindestens viermal, während er skizzierte, schrieb und plante. Er spitzte Bleistifte und schob mit der Hand die Holzspäne vom Tisch auf den Boden. Er trank kaltes Bier und empfand Stolz, wenn es ihm gelang, die leeren Dosen genau in den Mülleimer am anderen Ende des Raumes zu katapultieren. Er kritzelte eilig Notizen auf Post-its und klebte sie an einen Entwurf, trank gelegentlich einen Kaffee, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und starrte auf das, was er gerade geschaffen hatte.
Alles war da, alle Bilder, Gefühle und Ideen. Tom fühlte sich lebendig, so als würde er gleich platzen vor Begeisterung über sein schöpferisches Potenzial.
Kurz vor drei Uhr morgens schaltete er sein Laptop ein und schrieb eine E-Mail an seinen Agenten. Ich hab’s – das Thema für die nächste Ausstellung. Aber es muss schnell gehen. Sie muss so bald wie möglich beginnen. In den nächsten achtundvierzig Stunden bekommst Du die ersten Entwürfe. Es bleibt nicht viel Zeit, alles zusammenzustellen, das ist mir klar, aber ich bin sicher, dass ich mein Bestes geben kann.
Tom beschloss, dass es Zeit war, das Online-Dating-Profil zu löschen. Genauer gesagt war es längst überfällig. Er loggte sich in ein altes E-Mail-Konto ein, dass er kaum noch benutzte, und von dort aus deaktivierte er das Profil. Innerhalb von Sekunden hatte er eine E-Mail im Briefkasten: Bestätigung für Konto-Deaktivierung. Herzlichen Glückwunsch, Dein Konto wurde
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