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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Thompson
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vor Neid zusammenfahren ließ, denn es erinnerte ihn an das Leben dort draußen. In der Vergangenheit hatte solcher Lärm ihn wütend gemacht, wenn er in der Nacht vor einer Klassenarbeit im Bett lag und zu schlafen versuchte. Jetzt war das Geräusch in seinem Kopf für alle Zeit mit der Nacht verknüpft, in der er Max Tooley erschossen hatte. Er war eifersüchtig auf jeden, der eine Polizeisirene kreischen hörte und wusste, dass sie nichts mit ihm zu tun hatte, sich fragte, um was es wohl gehen mochte, und dann einfach sein Leben weiterführte.
    Keon blieben nur seine Linien, und er zeichnete sie den ganzen Tag lang.
    »Schöne Linien malst du.«
    Keon schreckte zusammen, als er die Stimme hörte, nachdem er mit der Hand an den unteren Rand des Papiers gefahren war, um sein neuestes Meisterwerk zu vollenden.
    Die Stimme war tief, und sie kam von hinter ihm. Sie überraschte ihn, weil der Mensch, dem sie gehörte, in freundlichem Ton sprach, statt zu drohen, ihm seinen Fuß im eigenen Hintern zu verkeilen, und weil er nicht gedacht hätte, dass jemand Verständnis für die kreative Seite des Lebens hinter Gittern hätte. Wenn man es kreativ nennen konnte, Linien zu zeichnen   … Keon rechnete damit, dass auf die freundliche Bemerkung Sarkasmus oder Gewalt folgen würde, und er wandte sich auf seinem Stuhl langsam um, fast mit gequälter Miene, und wartete nur auf den unausweichlichen Schlag ins Gesicht oder die Spucke, die ihm ins Auge flog. Er hatte das schon mehrmals erlebt, weil er der Neue war. Tyrannen liebten Neue, und ein Gefängnis war immer voller Tyrannen.
    Hinter ihm stand ein großer Mann. Er war kahlköpfig und musste um die zwanzig Jahre alt sein. Seine Haut war so blass, dass man beinahe hindurchsehen konnte, und um sein Kinn und auf der Stirn sammelten sich Flecke. Er war außerordentlich dünn, die Unterarmknochen stachen hervor wie Messer. Der Typ hatte ein sehr freundliches Lächeln, aber auch furchtbare Zähne: ungleichmäßig, spitz und abgebrochen, als hätte jemand eine Handvoll aufgenommen und sie ihm achtlos in den Mund geschleudert.
    Ein freundliches Lächeln, dachte Keon. Kurz begriff er, dass er das zuvor nie gedacht hatte, aber es war das Erste, was ihm in den Sinn gekommen war, als er den Mann vor sich sah. Dennoch, er würde wachsam bleiben   … So naiv war er nicht   – nicht mehr.
    Keon hielt die freie Hand unter dem Tisch und ballte sie zur Faust, bereit, zur Selbstverteidigung den ersten Schlag zu führen. »Oh, ja. Danke«, murmelte er und hielt den Stift auf dem Papier fest, spürte, wie der Kunststoff unter seinen Fingern rollte wie ein sechseckiges Rad.
    Der Typ lächelte noch immer, aber   … es gab keinen rechten Haken, der unter der Häftlingskleidung her geführt wurde, keinen Überraschungshieb aufs Kinn.
    »Was machst du da eigentlich? Ich kapiere es nicht«, sagte der andere, verschränkte die Arme und beugte sich ein wenig vor. Für Keon war es ein gewisser Trost, dass er beide Hände des anderen sehen konnte.
    Ihm war das alles ein wenig unangenehm, und er wollte diesem Typen seine Durchfahrtsstraßengeschichte nicht anvertrauen. Sie klang sicher ein bisschen merkwürdig. »Äh   … na ja   … Ich versuche eine perfekte Gerade oder Kurve zu ziehen, so als hätte ein Computer sie gezeichnet«, sagte er, räusperte sich und begriff, wie dumm er klang.
    »Wichser!«, ertönte ein lauter Ruf vom nächsten Tisch und bestätigte Keon, was er sich vorher überlegt hatte.
    »Fresse!«, erwiderte der Kahlköpfige zu Keons Verteidigung. Er verteidigte ihn   … Keon fühlte sich innerlich berührt. Das war das erste Mal, dass jemand Stellung für ihn bezog, seit er in der Haftanstalt saß. Doch rasch vertrieb er das Lächeln, das automatisch auf sein Gesicht getreten war   – dafür war es noch zu früh.
    »Also bist du ’n Künstler oder so was?«, fragte der Typ.
    Keon versuchte zu ergründen, zu welchem Teil Nordenglands der breite Akzent gehörte. Er mochte nordenglische Akzente. Die Hendrys waren vor ein paar Jahren im Lake District in Urlaub gewesen, und Keon hatte dort nicht genug vom dortigen Dialekt bekommen können   – auf dem Rücksitz des Autos hatte er ihn derart ausdauernd geübt, dass Reb ihn schließlich so heftig gekniffen hatte, dass es blutete.
    »Oh, nein. Gar nicht. Ich mach das nur, um mir die Zeitzu vertreiben.« Als Keon das sagte, überlegte er, wie sehr das stimmte. Sekunden dehnten sich zu Minuten und Stunden, die für nichts mehr

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