Ein Tag im Maerz
während Christopher sich mit den Zahlen beschäftigte, und sie ertappte sich dabei, wie sie sehnsüchtig gut aussehenden Fremden nachschaute, die am Fenster vorbeigingen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten – was Sara eigentlich ebenfalls tun sollte.
Sie war unruhig und wusste, dass sich das nicht gerade günstig auf ihre Konzentrationsprobleme bei der bevorstehenden Besprechung auswirken würde. Die Situation mit Tom beherrschte ihre Gedanken. Sie hatte jeden Kontakt zu ihm abgebrochen. Zwar vermisste sie ihn, aber sie kam über das, was er getan hatte, nicht hinweg. Ihr Ehemann hatte sich mit anderen Frauen getroffen. Das konnte er ihr nicht erklären. Es gab keinen einfachen Weg, damit klarzukommen.
Die U-Bahn war überfüllt. Als sie einstieg, kam es ihr vor, als gebe es keinen Raum für ein anderes Lebewesen, das jeden Atemhauch und jeden Augenblick in einer fremdartigen Sardinenbüchse erzwungener Intimität teilen musste, ehe jeder ausstieg, seinen eigenen Weg ging und die Fahrt vergaß, die in der Erinnerung schnell mit den Tausenden anderen U-Bahn-Fahrten verschmolz, die man im Leben schon bewältigt hatte. Die meisten Menschen waren nicht in der Lage, sich die Gesichter in Erinnerung zu rufen, die sie in Momenten der Untätigkeit auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause gemustert hatten. Sara fühlte sich davon eigentümlich niedergeschlagen.
Sie fand einen Platz neben einer schwangeren Frau, die ein Buch auf ihrem Bauch aufstützte. Sara sah kurz ihr Spiegelbild im Fenster des Waggons, als sie sich setzte. Sie hatte ihr kurzes Haar erst am Vorabend in einem viel dunkleren Braun gefärbt; als sie ein paar graue Haare in ihrem Pony entdeckte, hatte sie sich entschlossen, sich ein billiges Färbemittel zu kaufen und es selbst zu Hause zu überdecken. Jetzt fragte sie sich, wieso die Färbung zu dunkel ausgefallen war; sie unterstrich damit nur das Abgehärmte in ihrem Gesicht.
Jemand hatte ein Exemplar von Finsbury Ad auf dem Sims hinter ihr liegen gelassen. Sara wand sich herum und nahm sich die Lokalzeitung. Bei der Bewegung knackten mehrere Wirbel in ihrem Rückgrat. Sie wusste, dass ihre Anspannung und ihr Elend sich vor allem an ihren Schultern bemerkbar machten. Sie dachte an die vielen Dinge, die sie zu erledigen hatte, während sie die ersten Seiten der Zeitung umblätterte, ohne sich auf die Artikel konzentrieren zu können.
Bis zum Abend musste sie eine ganze Reihe von Sachen organisiert haben: Sie musste die Speisekarte begutachten und eine Bestellung Cocktailgläser zusammenstellen; die Servietten mussten ausgetauscht werden, weil sie nach so vielen Besuchen in der Reinigung ausgebleicht waren, die Glühbirne in der Toilette musste ersetzt werden …
Als sie unvermittelt aufblickte, bemerkte Sara eine junge Frau, die auf eine Seite der gleichen Zeitung schaute und ihr dann direkt ins Gesicht sah, als musterte sie Sara. Die Blicke der jungen Frau zuckten zwischen der Zeitung und Saras Gesicht mehrmalshin und her. Sara empfand einen Schauder, als sie umblätterte, und lachte innerlich auf, wie paranoid und angespannt sie war.
Doch kaum richtete sie die Augen auf die nächste Seite der Zeitung, lächelte Sara ihr eigenes Gesicht entgegen. Sie sah von der Seite weg und in völligem Unglauben wieder hin, fragte sich, ob sie den Verstand verlor. Rasch las sie die Überschrift: KÜNSTLER MIT GEBROCHENEM HERZEN ERÖFFNET AUSSTELLUNG .
Wie bitte?
Ihr wurde übel, als sie das Foto wieder ansah, das die Bildunterschrift IN GLÜCKLICHEREN ZEITEN trug. Da war sie, in einem tief ausgeschnittenen Kleid, und sah sich strahlend lächelnd und mit leuchtenden Augen an. Sie hatte die Arme um Tom gelegt – das Foto war an dem Abend aufgenommen worden, an dem seine Ausstellung in der Mulai Gallery eröffnet wurde, die bei den Kritikern große Aufmerksamkeit erregt hatte. Er trug einen brandneuen Designeranzug und sah so gut aus, dass Sara sich einen Augenblick lang fragte, ob das wirklich der Mann war, der sie so tief verletzt hatte.
In ihren Augen brannten Tränen, als sie wieder auf die Seite sah und zu lesen versuchte.
Der hier ansässige abstrakte Künstler Tom Wilson hat eine neue Ausstellung eröffnet, die von seinem Kummer über ein Zerwürfnis mit seiner Frau inspiriert ist.
Mr. Wilson aus Finsbury Park hat mit seiner Ausstellung in der Mulai Gallery im März dieses Jahres fünf Preise gewonnen und widmet seine neuesten Arbeiten der 28-jährigen Sara Wilson, der Managerin
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