Ein Tag im Maerz
dass er für das, was er getan hatte, hierhergehörte, fand er zugleich, dass er es eigentlich nicht verdient hatte. Er stritt es immer noch ab. Er hätte sich nun eigentlich um seine Zukunft kümmern sollen: Ausbildung, eine Karriere, was auch immer. Das wusste er alles, aber er wusste nicht, wie ehrlich er sein sollte. Sollte er einfach mit ja antworten, oder sollte er auspacken? Sollte er dem Mann erzählen, wie er in der ersten Nacht auf seinem kratzigen Kissen geweint hatte, verzweifelt bemüht, seine erbärmlichen Schluchzer zu dämpfen, damit niemand ihn hörte und ihm den Arm auf den Rücken bog, bis er spürte, wie die Knochen aneinanderrieben? Er stand kurz vor dem Zusammenbruch.
»Klar«, sagte Keon. Er gab die Geraden auf und zeichnete verlegene kleine Häkchen über das ganze Blatt.
»Hast du es schon mit Briefeschreiben versucht?«, fragte der Mann. Er blickte wieder auf das Papier, und seine Wangen waren leicht gerötet.
»Nein, hab ich nicht«, antwortete Keon – auf die Idee war er noch gar nicht gekommen. »An wen sollte ich Briefe schreiben?«, fragte er und begriff, dass er auf der Welt außer seiner Mutter und Reb niemanden hatte. Und beide hatten ihn noch nie besucht, seit er eingesperrt worden war. Kein einziges Mal.
»Vielleicht an die Menschen, deren Leben du veränderst hast? Ich habe es gemacht, als ich zum ersten Mal ins Gefängnis musste. Da war ich achtzehn. Manchmal habe ich sie abgeschickt, manchmal nicht«, sagte der Mann. Er wirkte ein wenig verlegen, so als wünschte er, er hätte gar nicht erst davon angefangen.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Eddie. Und du?«
»Keon«, antwortete er und schämte sich für seinen eigenen Namen. Er schämte sich für sich. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er einen Freund gar nicht verdiente – einen Menschen in diesem Drecksloch, der ihn nicht auf eine ausgekochte Art und Weise verletzen wollte, die er vorher nicht für möglich gehalten hatte. Die Männer hier hatten eine Menge Zeit, um sich zu überlegen, was im Kampf am meisten wehtat, und das erforderte regelmäßig Körperhaltungen wie aus einer ziemlich aussichtslosen Partie Twister. Keon hatte bereits beschlossen, Eddie nicht zu fragen, warum er im Gefängnis war. Es war besser, keine Fragen zu stellen. So viel hatte er schon gelernt.
In der Nacht schrieb Keon seinen ersten Brief. An seine Mutter.
Er schickte ihn niemals ab.
17
Sie wusste, dass er von Tom kam.
Montag, 11. Mai 2009
Finsbury Park, Nord-London
7 Uhr
Der erste Brief fiel mit einem leisen dumpfen Geräusch in Saras Briefkasten, gefolgt von mehreren anderen.
Sie quälte sich aus dem Bett und stapfte niedergeschlagen in einem schwarzen französischen Höschen und einem dünnen grauen Unterhemd die Treppenstufen aus dunklem Holz hinunter. Ihr kurzes Haar war zerzaust und stand in verschiedene Richtungen ab.
Sie ging den kleinen Stapel Post durch. Ein Brief von der HSBC , den sie nicht öffnen würde, weil sie ihre Bankangelegenheiten online regelte, ein Betrügerbrief, der ihr einen Urlaub auf Barbados versprach, ein Brief vom Stadtrat, einer von den Gaswerken und schließlich ein kleiner weißer Umschlag, auf dem in zittrigen Großbuchstaben ihre Anschrift stand.
Sara kniff die Augen zusammen und empfand brennende Wut. Sie wusste, dass er von Tom kam. Er hatte ihren Namen nicht hingeschrieben – vermutlich, um ihr Interesse zu wecken und sicherzustellen, dass sie ihn öffnete. Und seine Schrift hatte er auch verstellt? Raffinierter Hund. Aber damit kam er bei ihr nicht durch.
Sie nahm die Briefe fest in die Hand, während sie die Treppe wieder hinaufstapfte, dem Korridor folgte und in die Küche trat.Den Brief von Tom hielt sie in der rechten Hand. Sie setzte sich an den Tisch und starrte auf den Umschlag, der auf dem geblümten Tischtuch im Stil der Fünfzigerjahre lag.
Sie war so sehr in Versuchung, ihn zu öffnen, aber sie wollte seine Worte im Moment nicht lesen. Sie konnte es nicht tun, solange sie derart durcheinander war. Für das, was ihr Mann ihr angetan hatte, gab es keine Erklärung.
Sara packte den Brief weg, dann ging sie unter die Dusche und machte sich für den Tag fertig, der vor ihr lag. Sie musste zu einer Besprechung zum Finanzberater des Restaurants am Covent Garden. Sie brachte Kaffee und Croissants aus einer naheliegenden Bäckerei mit – damit sie das langweilige Zahlenwälzen ertrug, brauchte sie Nervennahrung. Sie neigte dazu, in Tagträumereien zu versinken,
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