Ein Tag im Maerz
zählten, nur für die Uhr, die die Tage maß, bis er hier wieder herauskonnte.
Fünfzehn ganze Jahre. 180 erbärmliche Monate. 780 schreckliche Wochen. 5 475 beschissene Tage.
»Darf ich mal probieren?«, fragte der Mann. Er rieb sich eifrig die Hände, und seine Augen glitzerten ein wenig, als wäre ihm eine Testfahrt in einem brandneuen Ferrari angeboten worden. Es war schon erstaunlich, wie sich der Wert von Dingen änderte, sobald man hinter Gittern saß.
»Ja, klar«, sagte Keon und rückte auf der Bank ein Stück beiseite, damit der schmale Kerl sich setzen konnte. Seine Turnschuhe quietschten dabei über den Fußboden, und er kam sich wieder wie der neue Schüler vor, der die anderen Kinder auf dem Schulhof kennenlernen muss. Wer würde zu ihm stehen? Wer würde ihm sein Taschengeld abnehmen, wer würde seinen Kopf in eine Kloschüssel tunken? Mit leichtem Widerwillen schob er seine Stifte über die Tischplatte; ganz wohl war ihm nicht bei der Sache.
Was, wenn der Typ ihn angriff und ihm mit einem Stift ein Auge ausstach? Oder ihm einen in die Nase schob? Oder, noch schlimmer, sie ihm abnahm? Die Stifte und das Papier gehörten Keon. Er brauchte beides. Sie waren alles, was er noch hatte.
Der Mann sprang fast auf den Platz neben ihn, und Keon wurde am Ende der Bank leicht in die Luft gehoben, als der Kahlköpfige mit einem satten Laut auf dem hellblauen Plastik aufsetzte.
»Wo fange ich an?«, fragte er und sah Keon in die Augen. Keon fiel auf, dass er ganz stoppelig war im Gesicht. Er wirkte dadurch robust, fast markant, und Keon berührte sich am eigenen Kinn, wütend, dass ihm kein anständiger Bart wuchs, nurnutzloser Flaum. Der fremde Mann blickte Keon weiterhin an, und er nahm befangen die Hand vom Gesicht.
Der menschliche Kontakt jagte Keon Angst ein, denn jetzt, wo er ihn hatte, überfiel ihn die Furcht, ihn wieder zu verlieren. Bei diesem Gedanken musste er zum ersten Mal seit langer Zeit aufrichtig lächeln, und diesmal brach er das Lächeln nicht einfach ab. Er ließ es sein Gesicht formen, die Wangen als kleine apfelförmige Buckel hervortreten und die Augenbrauen einen, zwei Zentimeter heben; seine Augen lächelten ebenfalls.
Er sah aufmerksam zu, wie sein neuer Freund mit schwarzer Tinte eine Linie über die grelle Weiße der Seite zog. Er schlug sich gut, bis nach ungefähr vier Zentimetern ein Muskel in seinem Finger zuckte und eine leichte Abweichung verursachte.
»Scheiße«, sagte er, knallte den Kuli frustriert auf den Tisch und sah Keon wieder an. »Dieses verdammte Zucken.« Dann lächelte er selbst.
»Ist nicht einfach, oder?«, fragte Keon, nahm das Papier zurück und hoffte, seinen neuen Bekannten mit seinen neu erworbenen Fähigkeiten beeindrucken zu können. Zum ersten Mal seit langer Zeit nicht nur Blicke zu ernten, die halb Abscheu, halb Wut ausdrückten.
Er begann wieder zu zeichnen.
»Ach übrigens, weißt du, ob man hier irgendwo Bücher kriegen kann?«, fragte der Kahlköpfige.
Keon hörte auf zu zeichnen und hob den Kopf. Der Typ kniff leicht die Augen zusammen, als er es fragte, fast verlegen. Die Lautstärke seiner Stimme war deutlich gesunken.
Keon überraschte die Frage sehr, und einen Moment lang war er sich unschlüssig, ob der andere scherzte oder nicht. Dass hier jemand nach Büchern fragte, war ungewöhnlich. Niemand sonst schien sich hier dafür zu interessieren. Die Häftlinge in diesem Gefängnis saßen ausnahmslos für schwere Verbrechenein. Die meisten hatten sich nie für Literatur interessiert, weil sie zu sehr in ihren Gangs aufgegangen waren, gefangen in Ecken der Welt, die sie hätten vermeiden sollen. Falls sie doch Bücher lasen, ließen sie es jetzt garantiert niemanden wissen.
»Tut mir leid, ich hoffe, du nimmst mir die Frage nicht krumm … Du siehst nur ein bisschen intelligenter aus als die ganzen Idioten hier mit Scheiße statt Hirn, und ich bin erst gestern hierher verlegt worden.« Er hielt sich die Hand vor die schmalen Lippen, damit er nicht belauscht wurde.
»Keine Ahnung, tut mir leid«, sagte Keon und versuchte, ein »Strebertisch!« zu ignorieren, das in ihre Richtung gebrüllt worden war.
»Schade«, sagte der Mann. Er beachtete die Beleidigung ebenfalls nicht. Perlt einfach von ihm ab … »Kommst du damit zurecht?«, fragte er und beugte sich noch näher zu Keon.
Das war unverblümt.
Zurechtkommen? Der Kerl machte wohl Witze. Keon war es in seinem ganzen Leben noch nicht schlimmer gegangen. Obwohl er wusste,
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