Ein Tag ohne Zufall
Wie lange es wohl dauert, bis Mira dem Tierchen einen Namen verpassen will?
9
Am Ortsrand von Drivby verkündet ein kleines rotes Schild stolz:
Einwohnerzahl:
344
. Die Landstraße schlängelt sich bergab in ein kleines Tal, dann gabelt sie sich, wie von der dicht gedrängten Reihe willkürlich zusammengewürfelter Gebäude gespalten. Gegenüber stehen Scheunen, Baracken und Wohnhäuser, die genauso uneinheitlich aussehen, und dahinter ragt ein hoher Turm mit spitzem Dach empor, der wahrscheinlich zu einer Kirche gehört.
»Rechts oder links?«, fragt Seth, fährt aber nicht langsamer.
»Rechts!«, kann Aidan gerade noch rufen. »Nach links fährt man einfach nur durch.«
Seth biegt scharf nach rechts ab, und wir landen sozusagen in der Innenstadt. Dreihundertvierundvierzig Einwohner scheint ziemlich hoch gegriffen für dieses Nest. Das erste Gebäude an diesem Teil der gespaltenen Landstraße ist ein Café. Davor stehen ein paar Autos, eins ist sogar eine lange schwarze Limousine. Sie parkt zwischen einem Motorrad und einem rostigen Lastwagen.
Als wir daran vorbeifahren, bemerkt Seth: »Anscheinend gibt’s da superguten Kaffee.«
»Ich seh aber nirgends eine Tankstelle«, wirft Mira ein.
»Ach nee.«
»Und was ist das da drüben?« Auf der anderen Straßenseite kommen erst drei Häuser und dann ein Schild mit der Aufschrift:
Werkstatt.
Vor einer Baracke stehen zwei Zapfsäulen, von denen die Farbe schon abblättert.
»Sieht ja sehr vertrauenerweckend aus«, sagt Seth ironisch.
»Ach, die sind bloß ein bisschen alt. Das heißt nicht, dass sie nicht mehr funktionieren.« Als wir näher heran sind, können wir auch das kleinere Schild unter dem
Werkstatt
-Schild lesen:
Benzin
. Und darunter ein noch kleineres Schild:
Wahrsagerin
.
»Ich hab übrigens bloß zwei Dollar dabei. Damit kommen wir nicht weit. Hat einer von euch noch Kohle?« Die Frage richtet sich zwar an uns alle, aber Seth sieht mich dabei an, als sei ich überhaupt an allem schuld. Stimmt ja irgendwie auch.
»Ich hab kein Geld eingesteckt«, sagt Aidan. »Ich wusste ja nicht, dass ich heute welches brauche.«
»Ich auch nicht«, sagt Mira entschuldigend. »Du, Des?«
Als Seth vor die Zapfsäulen fährt, ertönt ein leises Bimmeln. Seth stellt den Motor aus und ich spüre, dass mich alle ansehen. Doch bevor ich etwas sagen kann, kommt ein langer, dürrer Typ mit fettverschmiertem Kinn aus der Baracke und begrüßt uns breit grinsend: »Morgen! Volltanken?«
Seth schaut mich mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an. »Ja, bitte«, antworte ich.
Der Lange hebt ebenfalls die Augenbrauen und legt den Arm auf die Windschutzscheibe. »Habt ihr’s bar? Wir nehmen nämlich keine Karten.« Er wartet auf eine Antwort. Sehen wir so verdächtig aus? Oder liegt es an dem Lämmchen auf meinem Schoß? Hält er uns womöglich für Viehdiebe? Ich kann leider kein Portemonnaie zücken. Erstens habe ich mein Portemonnaie nicht dabei, zweitens wäre sowieso kein Geld drin. Das Lämmchen schlägt aus, der Huf trifft das Handschuhfach. Seth verzieht das Gesicht.
Ich bin froh über die kurze Ablenkung. Ich fürchte mich vor dem Augenblick, wo ich den anderen gestehen muss, dass wir blank sind und hier festsitzen. »Momentchen«, sage ich und lege das Lämmchen zwischen Seth und mich. Dann reibe ich über die kleine Delle vorn auf dem Handschuhfach. Wenn ich lange genug reibe, erscheint vielleicht ein Flaschengeist und gewährt mir drei Wünsche … Das Handschuhfach klappt auf wie ein staunender Mund. Es ist mit Papier vollgestopft, aber zuoberst liegt ein mit einer Klammer zusammengehaltenes Bündel nagelneuer Geldscheine.
Bei diesem Anblick bleibt auch mir vor Staunen der Mund offen. Ich mache ihn aber gleich wieder zu, ziehe das Geldbündel heraus und fächere die Scheine ganz selbstverständlich auf, als hätte ich natürlich gewusst, dass sie dort drin sind. Es sind alles Hundertdollarscheine, mindestens zwanzig Stück. Seth pfeift anerkennend durch die Zähne, als hätte ich soeben die Schriftrollen vom Toten Meer entdeckt. Ich ziehe einen Schein aus dem Bündel und reiche ihn Seth, der ihn an den Langen weiterreicht. Der hält ihn prüfend gegen’s Licht. Hoffentlich ist derjenige, dem das Geld gehört, kein Fälscher.
»Hoppla!«, sagt der Lange dann. »So früh am Morgen kann ich auf so einen großen Schein aber noch nicht rausgeben. Ich lauf mal eben über die Straße und mach ihn klein.«
»Gibt’s hier eine Toilette?«, fragt Aidan.
Der
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