Ein Tag ohne Zufall
Gastlehrer da. Ich bin ihm heute Morgen im Park begegnet, und er hat mich gefragt, was er für mich tun könnte, worauf ich …«
»Wieso hat er dich so was gefragt?«
»So’n Scheiß!«
»Seth! Wer hat dir denn solche Ausdrücke beigebracht?«
»Du musst öfter mal unter Leute, Mira. ›Scheiß‹ sagt doch jeder.«
»Vielleicht ist das ja Seths Geheimnis.«
»Du bist uns nämlich noch eins schuldig.«
»Lass bloß nicht Mrs Wicket hören, wie du redest …«
»Hallo?«, übertöne ich sie alle. »Darf ich vielleicht noch zu Ende erzählen?«
Sie verstummen, und Mira beugt sich gespannt vor.
»
Warum
er mich das gefragt hat, weiß ich auch nicht. Jedenfalls habe ich gesagt, ich hätte nur den einen Wunsch, dass es wenigstens einen einzigen Tag gerecht auf der Welt zugeht, dass einen Tag lang das Gute siegt, dass einen Tag lang alles ist, wie es sein soll. Was meint ihr … kann es so einen Tag überhaupt geben?«
»Soll das eine Scherzfrage sein?«, fragt Aidan misstrauisch. »Weil nämlich …«
»Also, ich glaube schon«, unterbricht ihn Mira. Sie holt tief Luft und schaut mit großen Augen zum Himmel hoch, als sei nur dort oben umfassende Gerechtigkeit zu finden. »Doch. Auf jeden Fall.«
Seth sagt gar nichts.
»Was meinst du?«, frage ich.
Er macht den Mund auf und gleich wieder zu. Er schaut erst mich an, dann sieht er wieder geradeaus auf die Straße. Dem obercoolen Seth fehlen die Worte. Das macht mich viel neugieriger als alles, was er hätte antworten können. »Ich weiß nicht, ob es so einen Tag geben kann, aber …«
»Stopp!«, schreien Mira und ich da. Seth tritt auf die Bremse, und das Auto kommt schliddernd zum Stehen, schaukelt noch mal vor und zurück. Mitten auf der Straße steht ein flauschiges weißes Lämmchen. Es hat die staksigen Beine auf den Boden gestemmt und rührt sich nicht von der Stelle.
»Ach du Sch…«
Wir drehen uns sofort nach allen Seiten um, halten auf den Hügeln Ausschau nach einer Schafherde.
»Das arme Kleine«, sagt Mira mitleidig. »Bestimmt hat es sich verirrt.«
Das rosa Näschen zuckt, und mir wird flau im Magen. Die großen schwarzen Augen sind von seidigen weißen Wimpern eingerahmt. Das Lämmchen dreht die rosig geäderten Ohren nach vorn, am Hals hat es lose Hautfalten, als hätte es einen zu großen Pullover übergezogen.
»Das ist ein Cormo«, sagt Aidan.
»Quatsch, das ist ein Schaf!«, widerspricht ihm Mira.
»Sag ich doch. Ein Cormo-Schaf.«
Seth hupt.
Ich werfe mich auf die Seite und ziehe seine Hände vom Lenkrad. »Spinnst du?«
»Ich will das Vieh doch bloß von der Straße scheuchen.«
»Wenn es sich verirrt hat, können wir es nicht einfach hierlassen. Es ist doch noch ein Baby. Vielleicht hat es keine Eltern mehr.« Ich öffne meine Tür und steige aus.
»Aber die Sitze! Was meinst du, wie die hinterher aussehen!«
Ich stehe schon vor dem Lämmchen. Mit ausgestrecktem Arm könnte ich es anfassen. Es rührt sich nicht, sondern schaut mich nur mit großen schwarzen Augen an. »Na, mein Kleiner!« Ich hocke mich hin und halte ihm die Hand unter die Nase. Es schreckt nicht zurück, und ich streichle es behutsam. Es hat eine kalte Nase, aber die Wolle drum herum fühlt sich warm und samtig an. Das Lämmchen stupst die Nase in meine Handfläche.
Määäh.
»Brauchst keine Angst zu haben«, sage ich leise. »Wir finden deine Mama bestimmt wieder.« Ich stehe auf und hebe das Tierchen hoch. Überraschenderweise schmiegt es sich bereitwillig in meinen Arm. Ich gehe zum Auto und steige, das Lämmchen fest an mich gedrückt, wieder ein.
Aidan und Mira beugen sich über die Lehnen der Vordersitze und streicheln dem Tier den Rücken. Es zuckt nur ein bisschen, dann kuschelt es sich wieder an mich.
Seth nimmt die Hände nicht vom Lenkrad. »Bestimmt beobachten uns die Eltern dabei, wie wir ihr Kindchen schafnappen!«
»Blödsinn!«, sagt Mira energisch.
»Glaub ich auch nicht«, pflichtet ihr Aidan bei.
»Wenn wir im Ort sind, fragen wir, wem es gehören könnte«, sage ich.
Seth legt den Gang ein und fährt weiter. »Wenn hier überhaupt irgendwann eine Ortschaft kommt!«
»Da war ein Schild, schon vergessen?«
Er schielt zu dem Lämmchen hinüber, dann streckt er zögerlich die Hand aus und fährt ihm mit den Fingerspitzen kurz übers Bein. »Ganz schön mager«, lautet sein einziger Kommentar. Ich vergrabe das Gesicht im weichen Nackenfell meines Schützlings und atme den strengen Geruch von Wolle und Haut tief ein.
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