Ein Tag ohne Zufall
ich.
»Passt doch«, sagt er, als müsste er sich verteidigen.
»Klingt eher nach einem Hund.«
»Schließlich hat er Glück gehabt, dass wir ihn nicht überfahren haben.«
Ich zucke die Achseln. »Meinetwegen.«
Damit hätten wir dem kleinen Schaf einen Namen verpasst. Beziehungsweise Seth hat ihm einen Namen verpasst.
Wir bedanken uns bei dem Langen und Belle für das Benzin. Dann fahren wir ohne ein weiteres Wort zum Café rüber, um Aidan und Mira einzusammeln. Das Lämmchen und ein rasch noch gepflücktes Grasbüschel liegen zwischen uns.
Lucky.
Hat mich Seth mit dieser Namenswahl etwa unabsichtlich einen Blick auf sein Geheimnis werfen lassen?
10
Wir sitzen im Auto vor dem Café und warten darauf, dass Aidan und Mira wieder rauskommen. Seth hat anscheinend vergessen, dass er aufs Klo wollte. Seit er dem Lämmchen einen Namen gegeben hat, ist er auf einmal ganz verrückt nach ihm. Er krault Lucky das Nackenfell und füttert ihn dabei mit einzelnen Grashalmen.
Am liebsten würde ich ihm das Lämmchen wegnehmen und selber füttern, aber ich beherrsche mich. Es ist unklug, sich allzu sehr auf jemanden oder etwas einzulassen, und ich habe sowieso schon das Gefühl, als würde ich mich heute überhaupt nicht klug verhalten. Es kommt mir vor, als würde ich von einer unbekannten Kraft mitgerissen. Wenn ich das laut sagen würde, würde ich mir bloß wieder eine abfällige Bemerkung von Aidan einfangen, aber die Kraft hat auch ihn mitgerissen, ob es ihm passt oder nicht. Sonst wäre er ja wohl kaum während der Unterrichtszeit freiwillig zu uns ins Auto gestiegen, wo er doch noch keinen einzigen unentschuldigten Fehltag hat!
Seth ist so mit Lucky beschäftigt, dass er auch mich erst einmal vergessen hat, was mir nur recht sein kann. Aber wenn Mira zurückkommt, besteht sie bestimmt darauf, dass ich mit meinem Geheimnis rausrücke. Ich habe jede Menge Geheimnisse, aber keines ist für fremde Ohren gedacht. Das hätte auch Mira inzwischen kapieren können, so wie ich inzwischen kapiert habe, dass unser Ausflug kein gutes Ende nehmen kann. Das ist das Dumme an einem Auto, wo man auf engstem Raum aufeinanderhockt. Andere Leute haben immer den Drang, solche engen Räume mit Quatschen zu füllen. Vielleicht hat es mir ja deshalb so lange so gut in Hedgebrook gefallen. Die Mahlzeiten sind kurz, im Park und auf den Rasenflächen ist reichlich Platz, im Unterricht herrscht Disziplin. Sogar bei den Beratungslehrern, zu denen ich gehen muss, wird meistens nichts Spannendes besprochen. Manche Dinge behält man einfach am besten für sich.
Mira will ein Geheimnis hören? Ich könnte ihnen den wahren Grund anvertrauen, weshalb ich nach Langdon will, aber damit vermassele ich womöglich alles. In Langdon wohnen meine Eltern. Womöglich wissen die anderen, dass ich mich meinen Eltern entfremdet habe. Entfremdet … ich mag das Wort. In meinen Ohren klingt es warm und geheimnisvoll, überhaupt nicht kalt und ablehnend. Sogar Wörter sind nicht immer das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen.
Wir sind nur elf Meilen gefahren und haben uns erst eine halbe Stunde vom Internat entfernt, aber mir kommt es vor wie eine Weltreise. Selbst wenn ich wollte, könnte ich jetzt nicht mehr umkehren. Und die anderen? Ich habe mein Schicksal selbst gewählt, aber habe ich deshalb das Recht, auch über ihres zu entscheiden? Kann es an ein und demselben Tag für alle Beteiligten gleich gerecht und befriedigend zugehen? Wer hätte gedacht, dass ein einziger, in den Papierkorb geworfener Tag solche weitreichenden Folgen haben kann?
»Glaubst du, der Kleine braucht vielleicht Milch?«
»Das musst du Aidan fragen, unseren Cormo-Fachmann. Ich habe den Eindruck, Lucky ist mit dem Gras ganz zufrieden. Er ist noch klein, aber er ist ja kein Baby mehr.«
Ein Baby.
Dann gib wenigstens dem Baby ein Küsschen, Destiny.
Aber ich konnte mich nicht überwinden. Inzwischen ist mein Bruder längst kein Baby mehr. Mein Bruder wohnt auch in Langdon. Ihn haben sie behalten.
»Des?«
Ich zucke zusammen. »Hast du was gesagt?«
»Allerdings. Ich hab dich gefragt, was du glaubst, wo die beiden anderen so lange bleiben. Was die da drinnen treiben.«
»Ach, du weißt doch, wie Mira ist. Die verzettelt sich überall.«
»Komm, wir gehen sie holen.«
Wir steigen aus. Lucky bleibt zusammengerollt auf dem Sitz liegen und zählt Schäfchen. Oder zählt er Menschen? Ich spähe durch die Fensterscheibe. Das Café ist rappelvoll. Wir gehen rein und
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