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Ein Tag ohne Zufall

Ein Tag ohne Zufall

Titel: Ein Tag ohne Zufall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pearson Mary E.
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Hügel, der Horizont wird weiter. Mira macht uns wie eine Fremdenführerin auf das goldgelbe, orangene und weinrote Herbstlaub der Bäume aufmerksam. Das wäre uns zwar auch ohne ihre Hinweise nicht entgangen, aber ihre Begeisterung ist ansteckend, und zu meiner eigenen Überraschung freue ich mich jedes Mal schon auf ihren nächsten Freudenschrei.
    Lucky schläft zwischen Seth und mir auf der Sitzbank. Er hat inzwischen alles Gras aufgefressen, das Seth für ihn gepflückt hatte, und im Eifer des Gefechts hat er auch gleich ein Stück Sitz mitverspeist. Seth verzieht das Gesicht, als er das Loch sieht, aus dem der Schaumstoff quillt, dann schielt er zu mir herüber, um festzustellen, ob mir der Schaden auch schon aufgefallen ist. Ich bringe es nicht fertig, ein entsetztes Gesicht zu machen, denn schließlich geht es nur um ein Auto, das mir noch nicht mal gehört, darum zucke ich bloß die Achseln. Diese Gleichgültigkeit schreibt Seth wahrscheinlich der allseits bekannten Tatsache zu, dass ich nicht ganz richtig im Kopf bin. Tja, harmlose Gesten können zu tiefgreifenden Interpretationen führen.
    Wir kommen gut voran, ich schätze, bis Langdon ist es höchstens noch eine halbe Stunde. Im Internat sind jetzt die ersten beiden Unterrichtsstunden um. Im Büro des Direktors sind vier Abwesenheitsmeldungen eingegangen. Die Aufsicht führenden Lehrer haben in unseren Schlafräumen und im Krankenzimmer nachgesehen. Zu guter Letzt wurden vermutlich die Bibliothek, die Speisesäle und die alten Stallungen hinter den Kutscherhaus abgesucht, wo sich gelegentlich subversive Elemente verbotenen Aktivitäten hingeben. Bei gleich vier verschwundenen Schülern hat die Schulleitung vielleicht sogar die Polizei verständigt. Nein, diesen Schritt wird Mrs Wicket so lange wie möglich hinausschieben. Sie gerät nicht so schnell in Panik. Der Direktor schon. Er ruft jedem, der gegen die Schulordnung verstößt, sofort ins Gedächtnis, dass es eine lange Warteliste von Bewerbern gibt und dass unsere Plätze im Handumdrehen neu besetzt werden können. Wie tröstlich zu wissen, dass man so leicht zu ersetzen ist, wo es doch so viele Dinge gibt, die sich nie mehr ersetzen lassen.
    Seth entdeckt am Straßenrand einen Bach und fährt rechts ran. Er meint, Lucky hat vielleicht Durst, außerdem könnte er dann sein Geschäft verrichten, bevor er womöglich seine Köttel im Auto hinterlässt. Da sich keiner von uns mit den Verdauungsgewohnheiten von Schafen auskennt, erhebt niemand Einwände. Außerdem bin ich gespannt, wie Seth das Lämmchen überreden will, sein Geschäft auf Knopfdruck zu verrichten.
    Seth und Aidan gehen mit Lucky auf die Wiese, Mira und ich warten am Auto. Mir fällt auf, was Seth für lange, lässige Schritte macht, wogegen Aidan mit knappen, steifen Schritten neben ihm hermarschiert. Die beiden sind wirklich grundverschieden. Das fängt schon mit Seths blondem Wuschelkopf und Aidans ordentlich gescheitelten und gegelten braunen Haaren an. Seth lässt Lucky runter, und ich kann trotz der Entfernung erkennen, wie Lucky mit dem Stummelschwanz wackelt, als sei er außer sich vor Entzücken über den weißen Klee, in dem er steht. Unser kleiner Freund ist anscheinend ein Feinschmecker.
    Mira lehnt sich ans Auto und verschränkt die Arme. »Findest du, er sieht gut aus?«
    »Seth?«
    »Quatsch! Aidan natürlich. Er mag mich nämlich.« Lächelnd blickt sie dem über die Wiese stiefelnden Aidan nach. Dass Mira Aidan toll findet, ist nicht zu übersehen. Sie läuft ihm nach wie ein Hündchen, heftet sich an seine Fersen, als wären es Leckerli. Allerdings ist mir noch nie aufgefallen, dass Aidan diese Zuneigung erwidert. Er duldet Mira eher, auch wenn er dabei immer freundlich bleibt.
    »Hat er dir das gesagt?« Vielleicht wäre es ein gutes Werk, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, ehe sie sich noch länger lächerlich macht.
    »Red keinen Unsinn. Von so was verstehst du nichts.«
    Ich komme mir vor wie eine Fünfjährige, der ein Erwachsener herablassend den Kopf tätschelt. Ich kann aber nichts entgegnen, weil Mira nach Aidan ruft und ihm dann hinterherläuft. Sie dreht sich noch einmal nach mir um. »Mach in Zukunft die Augen auf, dann kriegst du auch mit, was um dich herum vorgeht, Des!« Damit läuft sie weiter und wartet die Antwort nicht ab, die mir sofort auf der Zunge liegt.
    Ich
soll die Augen aufmachen? Ich, die große Beobachterin? Was bildet die blöde Kuh sich ein? Ich stapfe wütend los, bleibe aber

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