Ein Tag ohne Zufall
selbst ungeduldig. Dann spürte ich etwas. Eine Hand, einen Fuß, einen Ellbogen … jedenfalls stupste mein Bruder von innen gegen meine Hand, da war ich ganz sicher. Ich schaute meine Mutter an. Es war für uns beide ein ganz besonderer Augenblick. Timing ist alles.
Woher hätte ich auch wissen sollen, dass dieser ganz besondere Augenblick der Auftakt zu meiner Vertreibung war?
15
»Habt ihr das Schild gesehen? Nur noch zweiundzwanzig Meilen bis Langdon.« Mira beugt sich vor und sagt mit Nachdruck: »Und ihr beide seid immer noch nicht mit
euren
Geheimnissen rausgerückt.«
Hartnäckig ist sie, dass muss man ihr lassen. Mir war klar, dass sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen würde. Das beweist schon unser kleines Ritual im Internat. Anfangs habe ich ihr morgendliches Auftauchen als Belästigung empfunden, doch inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, dass ich zu Miras Tagesablauf gehöre.
»Fang du an, Seth«, sage ich.
»Ich muss fahren.«
»Komm schon, Des!«, bettelt Mira.
Seufzend drehe ich mich zu ihr um. »Na schön. Aber keine Fragen – versprochen?«
Sie nickt energisch. Aidan zuckt gleichgültig die Achseln.
Mir ist etwas eingefallen, womit ich Mira zufriedenstellen kann. Zumindest dürfte es sie bis Langdon ablenken, wo wir endlich aus dem engen Auto aussteigen können. »Seid ihr so weit?«
»Jahaaa!«, erwidern Aidan und Seth ungeduldig. Mira schweigt erwartungsvoll.
»Ich habe es noch nie jemandem erzählt, und ihr dürft es nicht weitertratschen: Ich bin die letzte lebende Nachfahrin von William Shakespeare.«
Mira schnappt erwartungsgemäß nach Luft. Es ist ein Kinderspiel. Ich kann die Geschichte ebenso gut noch ein wenig ausschmücken.
»Aber das ist noch nicht alles. Shakespeares unveröffentlichte Stücke wurden in meiner Familie von Generation zu Generation weitervererbt, und ich bin im Besitz der unveröffentlichten Fortsetzung von
Romeo und Julia
.« Ich beuge mich vor und raune Mira zu: »Die beiden sind am Leben geblieben!«
»Moment mal …«
Mira klatscht in die Hände und ruft freudig: »Ich hab so was geahnt! Ich fand das Ende schon immer schrecklich ungerecht. Das ist echt toll, Des. Was hat …«
»Pst! Was hab ich grade gesagt? Keine Fragen!«
Sie tut so, als sei ihr Mund ein Reißverschluss, den sie zuzieht. »Versprochen!«
Aidan brummelt: »Mensch, Mira – du stehst im Literaturkurs auf Eins und kaufst ihr so einen Blödsinn ab?«
Sie runzelt die Stirn. »Und du, Seth?«
»Kein Kommentar.«
Was natürlich sehr wohl ein Kommentar ist.
Mira dreht sich wieder zu mir. »Destiny!«
»Es stimmt, ich schwör’s.«
Mira lehnt sich zurück und sagt enttäuscht: »Wenn du das Spiel blöd findest …«
»Okay, dann vertraue ich euch noch ein Geheimnis an. Aber nur, weil ihr’s seid.«
Miras Miene hellt sich auf, Aidan zuckt wieder die Achseln. Ich brauche nicht hinzusehen, ich weiß auch so, dass Seth die Augen verdreht. Sie spielen nur mit, um Mira einen Gefallen zu tun. Es ist Miras Spiel.
»Als ich sieben war, musste ich mich einer Herztransplantation unterziehen. Weil gerade kein Spenderorgan zur Verfügung stand, haben mir die Ärzte ein Affenherz eingepflanzt.«
Seth haut begeistert auf die Hupe. »
Das
nehme ich dir sofort ab!«
»Deswegen esse ich bis heute Bananen immer mit der Schale.«
Da muss sogar Aidan grinsen.
Auch Mira schmunzelt und sagt kopfschüttelnd: »Kannst du nicht
ein Mal
die Wahrheit sagen, Des?«
Ob ich das kann? Ich weiß es selber nicht.
Als ich aufschaue, merke ich, dass mich Seth prüfend mustert. Er schaut wie ertappt weg. »Dann bin ich jetzt wohl dran«, sagt er unaufgefordert. Was hat er in meinem Gesicht gesehen?
»Au ja!«, ruft Mira. Anscheinend möchte auch sie nicht näher auf meine angebliche Herztransplantation eingehen.
»Mein Geheimnis ist leider nicht so aufsehenerregend wie Schwimmhäute zwischen den Zehen oder Sitzenbleiben in der Vorschule … und mit berühmten Vorfahren kann ich schon gar nicht dienen. Überhaupt habe ich nicht viele Geheimnisse. Aber die meisten Leute wissen nicht, dass ich vier Sprachen beherrsche und schon in elf verschiedenen Ländern gelebt habe, in manchen nicht nur ein Mal.«
Aidan erwidert abfällig: »Das ist doch kein richtiges Geheimnis. Klingt eher wie Angeberei. Oder waren deine Eltern auf der Flucht? Wird nach ihnen gefahndet, weil sie Schwerverbrecher sind oder so?« Ihm ist Seths Geschichte eindeutig nicht spektakulär genug.
»Sehr witzig. Nein, es ist
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