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Ein Tag ohne Zufall

Ein Tag ohne Zufall

Titel: Ein Tag ohne Zufall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pearson Mary E.
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Hügellandschaft, verbergen sich hinter den Steinen, haben all die Jahre auf mich gewartet.
    Seth räuspert sich. »Sind wir hier …«
    »Bis ganz nach oben«, sage ich.
    Wir kommen oben an. Hundert Meter geradeaus taucht der nächste Anhaltspunkt auf, eine verkrüppelte Eiche.
    »Hier!«, sage ich wieder. »Hier kannst du den Wagen abstellen. Das letzte Stück gehen wir zu Fuß.«
    Seth hält und stellt den Motor aus. Niemand rührt sich.
    »Na los, Jungs«, sagt Mira schließlich. »Ihr habt gehört, was Des gesagt hat. Wir müssen zu Fuß weiter.«
    Ich steige aus und gehe auf die Eiche zu. Vor langer Zeit hat ein Blitz in den Baum eingeschlagen und ihn gespalten. Ein niedriges Zaungitter kommt in Sicht. Die eisernen Schnörkel stehen in seltsamem Gegensatz zu der schmucklosen Umgebung. Das Tor schwingt im Wind auf und zu, das Quietschen vermischt sich mit dem Lied in meinem Kopf. Die anderen sind dicht hinter mir.
    Vor dem Tor bleibe ich stehen. Seth stellt sich neben mich, Mira und Aidan treten an meine andere Seite. Der kleine Rasenfleck innerhalb der Umzäunung zeigt noch einen Anflug von Grün, als hielte die von den Bewohnern verströmte Wärme den Winter fern. Ich betrachte die gravierten Steine. Der Granit sieht noch so neu und kalt aus wie vor zehn Jahren. Heute ist es auf den Tag zehn Jahre her. Erst kommt Papas Stein, dann Mamas und dann der von Gavin. Gavin, das Baby. Das für alle Zeit ihr Baby bleiben wird.
    »Hier wohnt meine Familie jetzt.«
    Niemand spricht ein Wort. Atmen sie überhaupt? Die drei hinter dem Zaun atmen auch nicht mehr.
    »Tut mir leid, dass ich es euch nicht vorher gesagt habe.«
    Keine Antwort.
    »Es ging einfach nicht.«
    Seth drängt sich an mir vorbei und tritt durch das Tor, betritt ihre Welt, die von Papa, Mama und Gavin. Mira und Aidan folgen. Ich bleibe vor dem Tor stehen, vor der Grenze, die ich noch kein einziges Mal übertreten habe. Ich spähe zwischen ihren Rücken, Armen und Ellbogen hindurch auf die Steine, die meine Vergangenheit verkörpern, sie in Zahlen und Daten festhalten. Daten, die sich nie mehr ändern. Es ist mir nicht gelungen, etwas daran zu ändern. Auch der heutige Tag konnte nichts daran ändern.
    »Deine Eltern wollten dich gar nicht loswerden«, sagt Seth nach einer Weile leise. »Sie haben dich … zurückgelassen.«
    Stimmt. Alles Leugnen, alles Zählen und wieder und wieder Durchgehen der Ereignisse kann daran nichts ändern. Alles führt zum selben Ergebnis, das Seth soeben ausgesprochen hat … sie haben mich zurückgelassen. Ich spüre einen Stich in der Brust wie von einem Messer. Ich spreche Seth flüsternd nach: »Zurückgelassen.« Das Messer bohrt sich tiefer in meine Brust. Es fühlt sich gut an. Notwendig. Verdient.
    »O Gott!«, sagt Mira jetzt tonlos, »die sind ja heute gestorben … alle drei.«
    »Am neunzehnten Oktober.« Aidans Stimme zittert.
    »An deinem Geburtstag«, sagt Seth. Sein Hinterkopf bewegt sich hin und her.
    Mira schnappt nach Luft. »Und deine Mutter hat auch heute Geburtstag! Sie ist an ihrem Geburtstag gestorben!«
    »Und du warst erst sieben?«
    Der Wind rüttelt an den Ästen der Eiche. Das Tor quietscht. Der Dudelsack spielt. Spielt ein längst verklungenes Lied, das trotzdem in diesen Hügelkuppen und Senken, zwischen den Grabsteinen all die Jahre auf mich gewartet hat. Für eine Siebenjährige hatten sich die Klänge quäkig und bedrohlich angehört, aber als ich ihnen nun lausche, sind sie ganz weich und rinnen wie ein Strom aus Tränen. Ich lege den Kopf schief und spitze die Ohren, damit mir kein Ton entgeht. Ich wüsste gern, wie es kommt, dass sich das Lied heute so anders anhört … welche besonderen Umstände von Zeit und Raum das bewirken.
    Seth streckt die Hand aus, als wollte er Papas Stein anfassen, überlegt es sich aber anders. Er schüttelt wieder den Kopf, diesmal nachdrücklicher. »Wie wahrscheinlich ist so etwas?«
    »Eins zu einer Million oder noch mehr«, erwidere ich. »Aber es kommt vor. Irgendwen erwischt es. Nach dem Gesetz der großen Zahl, stimmt’s?«
    Aidan dreht sich nach mir um. »Destiny …« So ein starres, wie in Stein gemeißeltes Gesicht wie seines habe ich noch nie gesehen – als müsste es zersplittern, wenn er sich auch nur einen Zentimeter bewegt. Auch Mira und Seth drehen sich jetzt um. Die drei stehen hinter der Grenze und ich davor, genau wie damals.
    »Ich habe zugeschaut, wie sie ins Flugzeug gestiegen sind. Sie waren die letzten Passagiere, weil ich so

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