Ein Tag ohne Zufall
ein Theater gemacht habe, das habe ich euch ja schon erzählt. Ich wollte mich nicht von ihnen verabschieden. Ich habe einen fürchterlichen Aufstand veranstaltet …«
»Du warst doch erst sieben …«
»Ich wollte mich nicht verabschieden, und sie mussten los. Mama wollte doch nur einen Abschiedskuss. Ich bin zum großen Fenster gelaufen, weil ich noch winken wollte. Ja, winken wollte ich, ehrlich. Ich habe geguckt, ob ich meine Eltern in den Flugzeugfenstern sehe. Aber als ihr Flugzeug losrollte, fiel bei einem anderem Flugzeug, das grade im Landeanflug war, ein Triebwerk aus, und es krachte in das Flugzeug mit meinen Eltern rein. Ich hab alles gesehen. Die Explosion. Die Flammen. Alles. Es war der unglücklichste Zufall, den man sich denken kann.«
Seth kommt näher. »Warum hast du uns das nicht längst erzählt, Destiny?«
Ich lache höhnisch: »Wie denn? Heute ist ja das erste Mal, dass ich es mir selber eingestehe. Ich habe mir immer vorgestellt …« Ich mache die Augen zu. Hoffnung. Verzweifelte Hoffnung. Inbrünstige Hoffnung. Unvernünftige Hoffnung. Trotzdem … Hoffnung. Die einzige Hoffnung, die mir geblieben war. Die einzige Rettung vor dem Undenkbaren, Unverzeihlichen. Und wenn ein unglaublicher Zufall das eine bewirkt hat, kann er womöglich auch das Gegenteil bewirken, wenn man nur lange genug abwartet.
Aber nicht heute. Nicht dieses Mal. Ich mache die Augen wieder auf.
Mira heult. Aidan hat sie in den Arm genommen.
Ich bin ganz ruhig. Habe damit nichts zu tun. Als wäre ich tausend Meilen weit weg und schriebe alles auf rosa Briefpapier nieder. Die Betäubung, die mich schon so oft gerettet hat, hat mich im Griff, die Betäubung, die immer meine Rettung sein wird.
Pack es weg, Destiny. Leg es in die unterste Schublade. Dann erfährt es keiner.
Jetzt haben sie es doch erfahren. Jetzt wissen sie es. Ich schaue zu der in Tränen aufgelösten Mira hinüber, und die Betäubung verflüchtigt sich kribbelnd. Ich hole gierig Luft, als wäre es mein erster Atemzug überhaupt. Meine Hände zittern.
Seth nimmt meine Hand. »Vielleicht ist es ja jetzt so weit.«
Ich schaue ihn an, schaue ihm in die Augen, bin verunsichert. Tausend Meilen verfliegen, ich spüre wieder, wo ich bin, wo ich stehe. »Was ist so weit?«
»Du hast dich nie von ihnen verabschiedet, Des. Vielleicht tut es dir gut.« Er zieht mich sanft an der Hand zum Tor, und ich begreife, was er vorhat.
»Nein!«
Er bleibt stehen, lässt mich aber nicht los. Mira kommt und nimmt meine andere Hand. Ihre Wangen sind noch feucht. »Jetzt kannst du es ihnen sagen, Destiny.« Sie flüstert, als wollte sie Mama, Papa und das schlafende Baby nicht aufwecken. »Sag’s ihnen. Sag ihnen alles. Wir sind bei dir. Wir gehen nicht weg.«
Ich schaue an ihr vorbei auf die drei Steine. Meine Augen brennen. Ich müsste blinzeln, aber es geht nicht. Ich kann die Lider nicht bewegen.
Es ihnen sagen? Jetzt? Was denn?
Meine Füße bewegen sich unfreiwillig. Oder doch freiwillig? Keine Ahnung. Aber ich bewege mich vorwärts, als würde ich schweben.
Ein Schritt. Zwei. Drei.
Das Tor.
Vier.
Durch.
Fünf.
Mira hält mich an der einen Hand, Seth an der anderen.
Sechs. Sieben.
Die Glückszahl. Sie lassen mich los.
Ich stehe meiner Familie gegenüber.
Mama. Papa. Und dem süßen kleinen Gavin.
Nichts trennt uns mehr.
Keine Scheibe. Keine Gangway. Keine Jahre.
Nur ich. Und sie.
Ich mache einen Schritt. Freiwillig.
Meine Familie.
Ich strecke die zitternde Hand aus und lege sie auf Papas Stein. Ruhig. Ja, Papa war ein ruhiger Mann. Ruhig und verlässlich. Wenn er mich hochhob und durch die Luft wirbelte, hatte ich keine Angst. Ich fahre mit dem Finger seinen Namen nach. William. Will. Ich spüre noch seinen Kuss auf der Stirn, seinen Abschiedskuss. Warm. Sehe ihn lächeln, damit ich endlich zu schmollen aufhöre. Ich hätte ihn auch gern angelächelt. Hätte es beinahe getan. Ich lasse die Hand über die Oberkante seines Steins gleiten, und die Hand landet oben auf dem nächsten Stein. Dem von Mama. Caroline. Weiches, schwarzes, nach Rosen duftendes Haar, die seidigen Strähnen kitzelten mich an der Nase, wenn sie mich an sich gedrückt hat. Sie wollte mich nie loslassen. Ich fahre das Datum auf dem Stein nach.
19
. Oktober.
Nur fünfunddreißig Jahre lagen zwischen ihrer Geburt und ihrem letzten Geburtstag.
Und Gavin. Er hat am kürzesten gelebt. Oben auf seinen Stein ist ein pausbäckiger Engel eingemeißelt. Ich falle auf die Knie. Gavin. Ob er noch
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