Ein Tag ohne Zufall
Fürchten bin.«
Aidan holt ein sauberes Taschentuch aus der Tasche und hält es mir hin. »Seth meint doch bloß …«
»Ich weiß, was er meint, Aidan.« Ich nehme das Taschentuch. »Danke«, sage ich leise.
Ich wische mir den Schmutz aus dem Gesicht. Obwohl mein Gesicht verschmiert ist und ich bestimmt schrecklich aussehe – ich fühle mich gar nicht schrecklich. Mir geht es erstaunlich gut. An der Wahrheit ist nichts Geheimnisvolles oder Übernatürliches. Die Wahrheit ist einfach da, kalt, hart, groß und unversöhnlich. Kein Wunder, dass ich davor weggelaufen bin. Aber jetzt steht sie mir gegenüber, statt mich zu verfolgen, und das ist der entscheidende Unterschied. Der Lärm, den sie hinter meinem Rücken veranstaltet hat, war viel, viel beängstigender.
Ich spüre die Blicke der anderen. Sie haben noch nicht genug. Sie wollen noch mehr Erklärungen.
So weit.
Ich kann ebenso gut alles rauslassen.
»Putz dir mal die Nase«, sagt Aidan.
Mein Trompeten hallt höchst unpassend über den stillen Friedhof. Ich muss beinahe lachen, aber ich verkneife es mir. Ich glaube, die anderen wären damit noch überfordert.
»Es wird spät.« Seth steht auf und zieht mich hoch.
»Warte mal!« Mira streift die Schuhe ab und läuft zum Auto. Sie kommt mit dem Sonnenblumenstrauß und der Pfauenfeder zurück und drückt mir beides in den Arm. »Ich hab’s ja gewusst, dass wir das noch gut gebrauchen können. Ich wusste bloß noch nicht, wofür.« Sie braucht mir nicht zu sagen wofür. Ich drehe mich wieder nach den drei Gräbern um. Ich streiche mir mit der Feder über die Wange. Sie ist so weich wie eine Babydecke. Blau ist sie auch. Blau für einen kleinen Jungen. Ich lege die Pfauenfeder auf Gavins Grab. Dann teile ich den großen Strauß in zwei kleinere und lege einen davon auf Papas Grab. Wenn Blumen lächeln können, dann lächeln diese Blumen ganz bestimmt. Sie lächeln Papa an, wie er es sich gewünscht hat. Den zweiten Strauß halte ich vors Gesicht und flüstere etwas hinein, flüstere Mama etwas zu, dann lege ich den Strauß vor ihren Grabstein. Sie flüstert mir auch etwas zu:
Du bist Mamas braves Mädchen.
Ich drehe mich nach den anderen um. Ihre unbewegten Mienen sind mir unerträglich.
»Und? Lasst ihr dieses Geheimnis gelten?«, frage ich aufgekratzt.
Aidan ist froh über den Themenwechsel und antwortet: »Jedenfalls besser als die Story mit dem Affenherzen.«
Mira grinst. »Jetzt hast du was bei uns gut. Das übertrifft alle unsere Geheimnisse.«
Seth sagt gar nichts. Er schaut mich nur an und nickt. Ich bin in Versuchung, noch irgendeine lockere Bemerkung zu machen, um von dem abzulenken, was geschehen ist, um noch ein bisschen länger unsichtbar zu bleiben, aber die Zeiten sind endgültig vorbei. Ich fühle ihre freundschaftlichen, mitfühlenden Blicke wie ein behutsames Streicheln.
Ich wende mich ab, betrachte mit zusammengekniffenen Augen den letzten rötlichen Schein der Sonne über den Hügeln, und im selben Augenblick geht die Sonne unter, verschwindet aus meinem Blickfeld, hinterlässt aber leuchtende rosa Streifen. Kein Wind geht mehr. Die Musik verstummt. Es ist still.
34
Zufall. Der Zufall zieht sich durch unser Leben wie ein roter Faden. Manchmal verheddert und verknotet sich der Faden oder reißt sogar durch. Die losen Enden hängen herunter, aber das Hin und Her, das Vor und Zurück hört nicht auf, das Weberschiffchen saust immer weiter. Es hält nicht an, auch wenn man es sich noch so sehr wünscht.
Die Wechselfälle des Lebens treffen zusammen, unversehens wird alles auf den Kopf gestellt. Und man passt sich an. Weil einem nichts anderes übrigbleibt. Aber was tun, wenn der Zufall abermals eingreift und das Gewebe wieder aufribbelt, das man sich geschaffen hat, um zu überleben? Wie stellt man es an, noch einmal von vorn anzufangen? Anders zu leben als vorher? Anders zu reden? Anders zu denken? Viel zu viel ist in einen hineingewoben, als dass man es einfach so abstreifen könnte.
Trotzdem.
Du musst es tun.
Weil der Zufall, ein ganz besonderer Tag und drei Freunde es so gewollt haben.
35
Meine Eltern und mein Bruder sind tot.
Tot.
Das Wort verwandelt mich. Heute, in einem kurzen Augenblick, einem kurzen, unverhüllten Augenblick, ändert sich mein ganzes Leben. Wie schon einmal, vor zehn Jahren. Auch heute hat der Zufall mit mir gespielt, aber er hat andere Mittel gewählt. Ein unbeaufsichtigtes Auto. Abfalldienst. Die pingelige Miss Boggs, die einen Arbeitsbogen zu
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