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Ein Tag ohne Zufall

Ein Tag ohne Zufall

Titel: Ein Tag ohne Zufall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pearson Mary E.
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weiß, dass ich ihn im Kinderwagen geschoben habe? Dass ich ihm etwas vorgesungen habe, wenn er geweint hat? Das habe ich nämlich gemacht. Ich streichle den Engel, der über ihn wacht. Ein Baby darf man nicht alleinlassen. Hat Mr Anwalter den Engel in Auftrag gegeben? Er denkt immer an alles. Das habe ich mir die ganzen Jahre über nicht klargemacht und mich schon gar nicht bei ihm dafür bedankt. Ein pausbäckiger Engel für Gavin. Ich hätte Mr Anwalter so viel zu sagen, hätte Gavin, meinen Eltern, allen so viel zu sagen, aber ich habe nie den Mund aufgemacht.
    Sag’s ihnen.
    Hinter mir höre ich Mira schniefen. Ich habe nie um die drei geweint. Dann hätte ich mir ja eingestehen müssen, dass es wahr ist, wenn ich geweint oder darüber gesprochen hätte. Dann hätte ich mich damit abgefunden, und mit manchen Dingen darf man sich einfach nicht abfinden. Aber die Logik, die mich so lange aufrecht gehalten hat, hat sich irgendwie in Luft aufgelöst, als ich durch das Tor getreten bin. Da liege ich nun vor drei Grabsteinen auf den Knien. Vor den Grabsteinen meiner Eltern und meines kleinen Bruders. Das ist eine Tatsache, die ich nicht abstreiten kann. Ich lasse mich vornüber fallen, hocke jetzt auf allen vieren.
Sag’s ihnen.
Ich lege mich bäuchlings auf die Erde, breite Arme und Beine aus, will sie alle drei berühren. Will sie alle drei an mich drücken. Erst hockt sich Mira neben mich, dann Seth. Und dann sogar Aidan. Aus meinem Mund dringt ein kehliger Laut. Ein heiserer, fremdartiger, furchteinflößender Laut. Hände umfassen meine Hände. Eine Hand legt sich auf meine Schulter.
Wir sind bei dir.
Die Laute reihen sich aneinander wie eine rasselnde Kette, ich schlucke und schluchze. Wahr. Mama. Papa. Gavin. Alles, was ich ihnen nie gesagt habe. Was ich ihnen die ganze Zeit sagen wollte. Und ganz zum Schluss zwei Wörter.
    »Auf Wiedersehen.«
    Noch mal und noch mal. Zu jedem der drei.
Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, auf Wiedersehen.
»Es tut mir leid, dass ich nicht auf Wiedersehen gesagt habe.« Tränen mischen sich mit Erde und Gras, ich drücke das Gesicht in den weichen Boden, hoffe, dass sie mich hören, meine Worte annehmen, dass sie mich verstehen. Hoffe, dass sie einen Tag lang, einen einzigen, besonderen Tag lang begreifen, dass ich mich verabschieden wollte.
    Ich schließe die Augen und gleite in ihre Welt, gleite durch Erde, Kies, Särge und Zeit. Ich dringe zu ihnen vor, mache es mir bequem, als wäre ich tatsächlich dort, wo ich eigentlich immer hingehört hätte – warm, weich, geborgen –, in ihrer Welt, mit ihnen vereint, und ich sehe die Welt aus ihrer Sicht. Ich schaue nach oben und sehe, was sie sehen: Erde, Steine, Himmel, Baumkronen und Destiny. Ihre Destiny. Mama streckt die Hand aus, greift durch Zeit und Erde nach oben, streicht mir das Haar aus dem Gesicht und flüstert mir zärtlich ins Ohr:
Meine liebe Destiny, meine Kleine. Ich wollte dich niemals alleinlassen.
Papa streckt die Hand aus und streichelt mir die Wange.
Du bist doch meine Große. Du kommst schon zurecht.
Gavin, das Baby, streckt das Ärmchen aus, bis er mit dem Patschhändchen meinen kleinen Finger packen kann, und lächelt mich an.
Auf Wiedersehen
, raunen sie,
auf Wiedersehen
. Ich sehe die Destiny, die sie sehen. Nicht mehr sieben Jahre alt, verängstigt und allein. Ich bin nicht mehr allein. Heute habe ich die Hände anderer Menschen ergriffen, einen Einblick in ihr Leben bekommen. Und meine Familie freut sich darüber – sie freuen sich, weil sie wissen, dass ich es jetzt begriffen habe. Sie freuen sich, weil sie jetzt wissen, dass es mir gutgeht. Freuen sich, weil sie sich jetzt auch verabschieden konnten. Ich gehöre bis in alle Ewigkeit zu ihnen, und wenn ich weitermache, bedeutet das nicht, dass ich sie im Stich lasse. Ich halte ihre Hände ganz fest, will sie nicht loslassen.
Du musst aber
, raunt Mama.
    Und ich lasse los.
    Ich spüre Hände auf meinen Schultern. Auf meinen Armen. Ich gleite wieder in die Welt zurück, zu der ich weiterhin gehöre. Mira, Aidan und Seth sind wie versprochen bei mir geblieben. Ich habe mich verabschiedet, aber ich bin nicht allein. Ich stemme mich hoch und setze mich auf Mamas Grab wie auf ihren Schoß. Ich wische mir Grashalme und Erde von den Armen. Ich sehe Seth an, der neben mir sitzt. Er streckt die Hand aus, wischt mir über die Nase und sagt grinsend: »Du siehst zum Fürchten aus.«
    »Weiß ich. Ich kriege schon mein ganzes Leben lang zu hören, dass ich zum

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