Ein Tag ohne Zufall
auf ihre Schuhe. »Als dann eine Gerichtsverhandlung auf die nächste folgte, habe ich so getan, als ob die beiden gar nicht meine richtigen Eltern wären. Ich habe so getan, als ob es irgendwelche gruseligen Doppelgänger wären und als ob meine richtigen Eltern – die netten, vernünftigen – irgendwann wiederkommen und das Ganze aufklären und dass sich dann alle wieder vertragen würden. Mehr wollte ich ja nicht, als dass sich alle wieder vertragen und dass es wieder so schön wäre wie vorher.« Sie grinst in die Runde. »Ein Vierteljahr lang habe ich das Spiel durchgehalten, dann sind meine Eltern ausgerastet und haben mir verboten, sie noch einmal mit Harold und Vivian anzureden. So hießen sie gar nicht. Ich habe einfach irgendwelche Namen genommen. Irgendwelche fremden Namen. Weil sie mir nämlich wie Fremde vorkamen.« Sie wird wieder ernst. »Als sie mir verboten haben, sie so zu nennen, hatte ich sowieso schon kapiert, dass ich meine vernünftigen Eltern nicht wiederkriege, darum habe ich sie eben wieder Mama und Papa genannt. Aber drei Monate lang war es echt übel.« Sie faltet die Hände und schielt zu mir rüber. »Darum kann ich verstehen, dass man sich so was ausdenkt wie du, Des. Wenn alles um einen herum verrückt spielt, bleibt einem manchmal nichts anderes übrig.«
Ich sehe Mira an, schaue ihr richtig tief in die Augen, wie ich es sonst nie mache und wie es eigentlich unhöflich ist, aber so ist es gar nicht gemeint. Warum habe ich das nicht schon viel früher mal gemacht? Nach einem langen Blick nicke ich. »Stimmt, Mira. Manchmal kann man nicht anders.«
»Na ja, sich ein paar Monate in eine Phantasiewelt zu flüchten, mag ja noch angehen«, wendet Aidan ein, »aber du hast nicht mehr damit aufgehört. Hast du denn nie … äh … eine
Therapie
gemacht?«
Ich schüttele belustigt den Kopf. »Du weißt noch längst nicht alles, Aidan. Armer Mr Farrell. Er war der beste Freund meines Vaters, aber ich kannte ihn nicht gut, weil er weit weg wohnte, in der Stadt. Ich war noch klein, für mich war er nur ein Fremder, der ab und zu auftauchte. Ich weiß noch, wie er zu uns nach Hause kam und mir erklären wollte, dass er zu meinem gesetzlichen Vormund bestellt worden sei. Er war übrigens Rechtsanwalt und …«
»Ach
deshalb
nennst du ihn ›Mr Anwalter‹!«, unterbricht mich Seth.
»Du merkst auch alles«, bestätige ich amüsiert und erzähle weiter. Wie ich Hunderte Meilen von zu Hause weg in die Stadt zu meinem Vormund gezogen bin, dort aber nicht klarkam. Mein Vormund gab sich alle Mühe mit mir, aber er war Junggeselle und hatte mit Kindern keinerlei Erfahrung, und ich war eine verstörte, trotzige Siebenjährige. Er dachte, es wäre vielleicht besser für mich, wieder in Langdon zu wohnen, und so zog er mit mir wieder in mein Elternhaus und stellte das nächste Kindermädchen ein. Aber es passte mir nicht, dass Fremde in dem Haus lebten, in dem ich mit meinen Eltern und meinem Bruder hätte leben sollen, und alles wurde nur noch schlimmer. Ich wurde immer verschlossener, sprach und aß nicht mehr. Ich weiß noch, dass mein Vormund die ganze Zeit am Telefon hing. Andauernd schleppte er mich zum Arzt oder ging mit mir in den Park, bloß um mal rauszukommen. Schließlich beschlossen er und die Ärzte, dass ich in einer auf Fälle wie meinen spezialisierten Therapieeinrichtung untergebracht werden sollte.
»Es hat eine Weile gedauert, aber irgendwann ging es mir besser. Ein bisschen. Immerhin rede ich wieder, stimmt’s? Trotzdem … eine Therapie kann einem vielleicht klarmachen, was passiert ist, aber das stellt noch lange nicht unbewusste Denkgewohnheiten ab. Oder auch bewusste.«
Mira lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. »Aber warum hat dich Mr Farrell dann immerzu von einem Internat ins nächste geschickt? Denn das waren ja nicht deine Eltern, wie du Mrs Wicket erzählt hast.«
»Da hat wohl jemand gelauscht, hm, Mira?«
Sie zuckt die Achseln und erwidert grinsend: »Ertappt.«
»Ich habe immer wieder die Schule gewechselt, weil …« Mir gehen die endlosen Besprechungen mit den verschiedenen Beratungslehrern durch den Kopf, wo ich immer brav zugehört, mich aber nie geäußert habe. »Wenn du miterlebst, wie deine ganze Familie stirbt, und glaubst, du bist an allem schuld, dann …« Mir schnürt sich die Kehle zusammen, das Blut schießt mir in die Wangen. »… dann glaubst du irgendwie, du bringst Unglück oder bist ein schlechter Mensch oder so. Dann
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