Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
einem wegzunehmen: Auf dem Rückweg wird man mit der Waffe nicht wieder durchgelassen.
Vor der Teufelsbrücke steht eine Raketeneinheit. Aus der Entfernung ist nicht zu erkennen, ob es sich um Iskander oder um eine Totschka-U handelt, aber es sind beeindruckende Waffen.
Der Rok-Tunnel ist verstopft. Staus in beiden Richtungen. Solange die Armee dort durchzieht, ist er für Zivilfahrzeuge gesperrt. Unsere Kolonne wird problemlos durchgelassen. Der drei Kilometer lange Tunnel ist praktisch unbelüftet. So viel Staub und Abgase, dass man die Fahrbahn nicht einmal im Scheinwerferlicht erkennt. Das Atmen fällt schwer. Zwei havarierte Selbstfahrlafetten stehen im Tunnel. Die Besatzung macht sich an den Motoren zu schaffen, die Gesichter mit Tüchern verhüllt, um die Luft irgendwie zu filtern. Lange werden sie es hier nicht aushalten. Aus der Tragödie im Salang-Tunnel, bei der mehr als zweihundert Menschen erstickten, hat niemand etwas gelernt.
Hinter dem Pass verwandelt sich die Straße in einen einzigen Stau von vielen Kilometern Länge. Wir stehen mehr, als dass wir fahren. Bei den Alanen gelten keine Verkehrsregeln. Jede entstehende Lücke wird sofort genutzt und der Verkehr völlig stillgelegt. Ein Offizier lenkt die Fahrzeuge auf den Randstreifen – eine Kolonne Krankenwagen kommt aus der Gegenrichtung. Verwundete und Flüchtlinge. Fünfundzwanzig Fahrzeuge. Alle zum Bersten voll. Soweit ich erkennen kann, sind es überwiegend Flüchtlinge. Sie werden rausgebracht auf allem, was Räder hat. Die von dort kommenden Fahrzeuge haben zumeist keine Fenster, die Scheiben sind von Splittern zertrümmert. Die Leute hängen wie Trauben an den Lkws.
***
Wenn es stimmt, dass jeder Krieg seinen eigenen Radius hat, dann beginnt der von Südossetien in Dzhawa. Das erste große Dorf hinter dem Tunnel, ein Umschlagplatz. Hier hast du das Gefühl, dass du den Kreis betrittst, die Linie überschreitest.
Alles ist verstopft von Menschen, Bündeln, Kühlschränken, Panzern, Teppichen, Ziegen, Panzerwagen, Autos, Freiwilligen, Soldaten, Taxifahrern, Bettlaken … ein einziges Shanghai. Alle brüllen, rennen, wollen los – dorthin und weg von dort –, klettern in Busse und auf Panzer, man verabredet sich, sitzt starr und verloren herum oder schläft.
In einem Laden kaufen drei Soldaten einen Sack Zwiebeln und einen Sack Tomaten. Erbost und erregt. Die Osseten nennen sie «Ossitiere», die Georgier «Nagetiere». Sie erzählen, dass sie gerade aus der Stadt kommen. Haben Kameraden aus den Kellern geholt – die Vorhut hat schon gestern versucht, nach Zchinwali zu gelangen und ist in einen Hinterhalt geraten. Die Stadt ist bis jetzt nicht genommen. Es gibt lokale Gefechte.
In den Obstgärten pflücken junge, unerfahrene Rekruten Äpfel. Schmutzig, unausgeschlafen, hungrig. Rufe vom Panzerdeck treiben sie zusammen.
In Dzhawa werden die Freiwilligen angehalten. Die Transkam, die einzige Straße, die Nordossetien mit dem Süden verbindet, führt vor Zchinwali durch georgische Dörfer, und die anliegenden Höhenzüge sind immer noch vom Gegner besetzt. Da kommt man nicht durch, die Georgier schießen alles in Brand, was sich bewegt. Heute früh haben sie einen Schützenpanzer und zwei Schischigas (Gaz- 66 ) der 58 . Armee abgeschossen – nach dem Abschuss des dritten Flugzeugs unserer Flotte wurde die Luftunterstützung der Kolonnen eingestellt.
Ich erwische Zhorik in einem durchschossenen Sanitätsfahrzeug, dem die Windschutzscheibe fehlt.
«Nach Zchinwali?»
Er nickt.
«Durch den Wald?»
Er nickt.
«Werden wir da durchkommen?»
Er zuckt nur mit den Schultern.
Sehr gesprächig ist er nicht. Wir nehmen die Umgehungsstraße von Zar. Hier sagt man aus irgendeinem Grund «durch den Wald», obwohl sie über die Berge verläuft. Es ist ein ganz normaler, ungepflasterter Weg, von Panzerketten gründlich zerfahren. Die Räder wirbeln das feine Staubgemisch auf, durch die zertrümmerte Frontscheibe fliegt es direkt ins Auto. Der zentimeterdicke Staub gelangt in Augen, Mund, Nase und Ohren.
Hier sind wir in fast völliger Einsamkeit unterwegs. Wilde Ortschaften, man weiß nicht, wer dort haust. Heute Morgen – vor zehn Stunden – wurde hier, auf dieser Straße, eine Bataillonskolonne der 58 . Armee in Brand geschossen. Fast vollständig vernichtet. Fünfundzwanzig Fahrzeuge. Fünf verwundete Journalisten.
In einer Kurve rammen wir beinahe einen weiteren vom Hang gestürzten Schützenpanzer. Auch hier
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