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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkadi Babtschenko
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Ziegelsteinen oder sogar Mauerstücken. An manchen Orten strömt Wasser. Hier und da Erschossene und verbrannte Fahrzeuge. Und Krater, Krater, Krater …
    Humanitäre Hilfe wird in der Nähe des Bahnhofs geleistet, vor einem Hotel. Hier sind bis jetzt Kinder zu finden. In den Wänden Einschusslöcher, auf dem Boden Schrott, Glassplitter, irgendwo ist eine hängende Decke heruntergestürzt, überall Zementstaub. Brandgeruch. Am Registrierungsstand Brotscheiben und leere Wasserflaschen. Die Evakuierung läuft, Lastwagen werden mit Flüchtlingen beladen.
    Auf dem Fensterbrett ein Fernsehgerät. Die Olympischen Spiele. Alles grell und bunt. Die Moderatorin verzückt. Die Kommentatoren verzückt. Die Leute teuer gekleidet, lächelnde Gesichter, aufgeblasene Wangen. In welcher Welt leben diese Menschen?
    An der Stadtausfahrt erneut zwei abgeschossene Panzer. Ein Stück weiter, an der Kurve, verbrennen zwei Volkssturmsoldaten die Leiche eines gefallenen Georgiers. Nicht aus Hass. Ihnen gefällt selbst nicht, was sie da tun. Aber die Hitze lastet, niemand beerdigt die Leichen, und schon wabert Gestank durch die Straßen.
    Die Beugemuskeln sind stärker als die Streckmuskeln; wenn sie sich verkürzen, verkrümmt sich der Körper zu einem gespannten Bogen. Vom Feuer ist der Bauch des Gefallenen aufgebläht wie ein Ballon. Der Mann will nicht brennen, sie legen Zweige ins Feuer. Bislang sind nicht einmal die Beine verbrannt.
    Fotografieren? Nein. Ach, zum Teufel … Ihr habt eure Sorgen, ich habe meine. Das hier müssen alle sehen. Ich stelle mich auf den Bordstein und fotografiere in Großaufnahme. Mit Augenhöhlen und allen Einzelheiten. Rotes, angebranntes Fleisch kriecht ins Objektiv.
    Empfindungen? Absolut keine. Wie schnell sind alle moralischen Verbote in mir abgestumpft. Das ist das Abscheulichste – dass man den Tod wie einen Job betrachtet.
    Zerstörungen wollen wir im Bezirk der Schule Nr.  12 aufnehmen. Fünf, sechs fünfgeschossige Plattenbauten am Stadtrand. In einem Hauseingang Geheul. Man ruft uns dorthin. Keiner der Journalisten will gehen.
    «Wozu seid ihr dann hergekommen?»
    «Okay», ich spucke die Zigarette aus, «los.»
    In zwei Wohnungen drei in Bettlaken verschnürte Menschen: Eduard Gaglojew, Zalima Gaglojewa-Tibilowa, Dina Kadschojewa. Fotos von oben. Das ist alles. Mehr ist nicht geblieben. Sie haben versucht, in Pkws aus der Stadt zu fliehen, sind erschossen und verbrannt worden.
    Dieser Bezirk wurde anfangs von Grad-Geschützen bearbeitet, dann rückte die Infanterie ein – die Frauen erzählen, wie sie in den Kellern saßen, über ihren Köpfen gingen die Georgier vorbei, und sie konnten nur beten, dass kein Säugling schreien würde. Acht Menschen sind in diesem Haus gestorben.
    Ich schätze, diese Zahlen kommen hin – die Grad hat weniger eine Spreng- als eine Splitterwirkung, die Häuser sind stark beschädigt, aber keines von ihnen so sehr, dass man von Dutzenden Leichen unter den Trümmern sprechen müsste. Von Tausenden Toten kann nicht die Rede sein. Nach meiner Schätzung sind es in diesem Bezirk hundertfünfzig, zweihundert, dreihundert Menschen. Keine Tausende.
    Ich versuche nicht, irgendjemanden zu verteidigen oder zu entlasten. Die Beschießung einer Stadt mit Massenvernichtungsmitteln ist fraglos ein Verbrechen. Aber ich versuche, objektiv zu bleiben. Über Tote spekuliert man nicht.
    Auch von Massenhinrichtungen oder ethnischen Säuberungen kann hier nicht die Rede sein. Auf die friedlichen Bewohner hat man einfach keine Rücksicht genommen – wer starb, starb, richtiger gesagt, je mehr starben, desto besser, aber was Russland in Tschetschenien angerichtet hat, gab es hier nicht: keine Filtrierpunkte, kein Tschernokosowo und nicht das berüchtigte Folterbüro ORB - 2 . Vielleicht reichte die Zeit dafür einfach nicht. Aber es bleibt eine Tatsache.
    Ebenso wie am folgenden Tag keine Massenhinrichtungen und Massaker an Georgiern auf der Transkam stattfanden. Vielleicht weil sie alle schon weg waren. Aber auch das ist eine Tatsache. Wenngleich man alles gründlich geplündert und in Brand gesteckt hatte.
    Wobei, immerhin – die drei mit einem Bettlaken Gefesselten. Immerhin, der Keller, in dem sich friedliche Menschen versteckten und in den von oben, von der Treppe her, die Georgier schossen. Immerhin, der Leichnam eines Achtzehnjährigen in einer Garage, von einem Scharfschützen erschossen, der nicht wissen konnte, auf wen er zielte. Immerhin, der von einem Panzer zu einem

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