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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkadi Babtschenko
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antreten und fragte, wer zeichnen könne. Gorin trat vor. Man brachte ihm Karton, Leinwand, Farbe, und während die übrigen Sträflinge auf dem vereisten Platz geprügelt wurden, kopierte er im warmen Lagerraum Gemälde von Schischkin und Perow. Besonders populär bei der NKWD -Leitung waren genau die «Bären im Wald» und die «Jäger bei der Rast», die der Gauner nun schon mit geschlossenen Augen in zwei Stunden zustande brachte.
    An diesem Öfchen lebte er fünf Monate. Am Ende hatte er es satt. Das Jahr 1944 kam, der Krieg näherte sich seinem Ende, und er musste seine Strafe tilgen. Deshalb bat er darum, an die Front versetzt zu werden.
    «Lange wollten sie mich nicht weglassen, doch schließlich bestand ich darauf – sollte ich vielleicht zurück in dieses Lager und meine fünf Jahre absitzen, wenn der Krieg zu Ende wäre?! Aus welchem Grund?, fragte ich. Da ließen sie mich endlich weg. Ich glaubte damals nicht, dass es mich erwischen würde. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund – ich war damals noch ein junger Kerl. Hatte, mit Verlaub, noch kein einziges Mädchen ausprobiert. Deswegen konnte ich nicht getötet werden. Höchstens verwundet. Aber verwundet ganz bestimmt.»
    Im Frühjahr 1944 wurde der Verurteilte Gorin der 62 . eigenständigen Strafkompanie zugeteilt und ging an die Front, um seine Schuld zu sühnen.
    Im Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums wird bis heute jener Befehl Nr.  227 vom 22 . Juli 1942 aufbewahrt, besser bekannt als «Keinen Schritt zurück». Im Original. Denn diesen Befehl hat der Genosse Stalin eigenhändig geschrieben. Dafür gibt es direkte Hinweise im Text – am Anfang ist er in der ersten Person Plural gehalten: «Müssten wir hier nicht von unseren Feinden lernen …», später in der ersten Person Singular: «Ich glaube, das müssen wir …»
    Ein gewöhnliches Blatt Papier in DIN -A 4 -Format, mit anderen Blättern zu einem Stapel geheftet – Befehle aus dem Jahr 1942 . Dunkelblauer Umschlag. Kartoneinband. Ein unauffälliges Büchlein. Nur eben ungeheuer schwer. Weil es Millionen Todesfälle enthält. Millionen namenloser Menschenleben.
    Unter dem Befehl die schwungvolle Unterschrift: «I. Stalin». Mit einfachem Bleistift. Diese Unterschrift macht fassungslos. In dieser Bleistiftunterschrift wird die ganze Maßlosigkeit, die Absolutheit seiner Macht anschaulich. Stalin kam nicht einmal in den Sinn, dass man seine Unterschrift ausradieren oder fälschen könnte. Ich weiß nicht, ob irgendein anderer Herrscher es sich je erlaubt hat, Befehle mit Bleistift zu unterzeichnen. Ich glaube, er hat sein Vergnügen dabei gehabt – vielleicht musste er sich sogar bezwingen, nicht den Abdruck seiner Pfeife als Unterschrift zu verwenden.
    Der Völkervater machte sich nicht einmal die Mühe, zum Füllhalter zu greifen, wenn er Menschen in den Tod schickte.
    Bis heute beurteilen sowohl Historiker als auch Militärs diesen Befehl unterschiedlich. Die einen bezeichnen ihn als unmenschlich. Nach manchen Quellen haben allein in einem Jahr die Sperrtrupps 110 000  Menschen erschossen und weitere 350 000 in die Strafkompanien geschickt. Heute lassen sich diese Angaben nicht mehr überprüfen.
    Andere glauben, dass diese Maßnahme gerechtfertigt war – die Deutschen standen schon vor Stalingrad, die Armee ergriff die Flucht, und nur die Sperrtrupps waren noch in der Lage, die demoralisierten Soldaten aufzuhalten. Bekannt ist der Fall, bei dem eine in die Schlacht geworfene Sperreinheit die Deutschen mehr als vierundzwanzig Stunden aufhielt. Die Kämpfer des NKWD schlugen sich in völliger Einsamkeit und fielen bis auf den letzten Mann.
    Wie dem auch sei, in den Archiven ist der Bericht des NKWD der Stalingrad-Front an die Verwaltung Sonderangelegenheiten des NKWD der U d SSR über die Tätigkeit der Sperrtrupps an den Fronten von Stalingrad und Don erhalten. «Die Sperrtrupps nahmen vom 2 . August bis 15 . Oktober 1942 140 755  Wehrpflichtige fest, die von der vordersten Frontlinie geflohen waren. Von den Festgehaltenen wurden 3980  Mann verhaftet, 2276 wurden in Strafkompanien und 185 in Strafbataillone geschickt, 131 094  Mann wurden in ihre Einheiten und an Verteilungspunkte zurückgeschickt. Die höchste Zahl an Festnahmen und Verhaftungen nahmen die Sperrtrupps an den Fronten von Don und Stalingrad vor. Bei Stalingrad hielten die Sperrtrupps mehr als eine halbe Million Soldaten und Offiziere an. Über 25 000 davon wurden erschossen.»
    Im selben

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