Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
Freiheit, des freien Denkens und des Stolzes aus der Bevölkerung ausgemerzt worden. Die Mal’sagows dieses Landes wurden massenweise vernichtet oder vertrieben. Von dieser Erbanlage ist nichts mehr übrig. «Wenn achtzig Menschen Frankreich verlassen …»
Stattdessen hat man uns das Virus der Grausamkeit und Unterwürfigkeit eingeimpft. Nicht einmal eingeimpft – wir selber haben die Ärmel aufgekrempelt, eine Faust gemacht und den Arm zur Impfung hingehalten. Die Zeit dreht sich im Kreis. Die Wende, zu der das Land im Jahre 1991 ansetzte, ist vorüber, und alles geht wieder seinen gesetzmäßigen Gang.
Wenn wir heute den «roten Terror» der zwanziger Jahre haben, dann steht uns unvermeidlich auch das Jahr 1937 noch bevor.
Der Gauner aus dem Strafbataillon
Sie hatten nur eine Chance, ihre Schuld vor dem Vaterland wiedergutzumachen. Im Mannschaftsregister der Strafkompanien hieß es dann auch: «Grund der Entlassung: im Kampf gefallen.»
***
Strafbataillon. Abgekürzt «Strafbat». Schon vom Klang her ein furchtbares Wort. Sie wurden immer mitten in die Hölle geschickt. In panzergefährdete Richtungen, befestigtes oder vermintes Gelände – dorthin, wo die Infanterie nicht durchkam. Ohne Artillerievorbereitung, Feuerunterstützung und Maschinengewehre gingen sie zum Angriff. Oft erhielten sie nicht einmal Gewehre. Weil sie ihre Schuld mit ihrem Blut sühnen sollten. Und das taten sie. Durch ihren Tod bahnten sie der Armee den Weg zum Sieg.
Viele von ihnen sind namenlos geblieben, wurden in anonymen Sammelgräbern bestattet. Wer Glück hatte und überlebte, hatte das Recht, sein Strafbataillon in den Fragebögen nicht zu erwähnen. Und dieses Recht nahmen sie in Anspruch. Sie erzählten niemandem davon. Denn noch ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg galt das als Schandmal. Oft wussten nicht einmal die engsten Familienangehörigen, dass ihr Vater, Ehemann oder Großvater durch diese Hölle gegangen war.
Heute sind nur noch sehr wenige von ihnen übrig. Jeder hatte sein eigenes Strafbataillon. Und jeder hat seine eigenen Erinnerungen daran. Dem einen ist ein erbeutetes Bajonett geblieben, dem anderen die Entlassungsbescheinigung, wieder einem anderen eine schreckliche bläuliche Narbe unter dem Schulterblatt. Iwan Petrowitsch Gorin hat einen Offiziersmantel aufbewahrt, den er gegen die Vorschriften bei einem polnischen Schneider in Poznan hat nähen lassen und für den er mehr als einmal in den Arrest gegangen ist. Getauscht gegen einen einfachen Soldatenmantel hat er ihn trotzdem nie, diesen perfekt sitzenden Glücksbringer. Er läuft noch heute ab und zu darin herum, wenn er auf der Datscha ist – im Obstgarten, in den Beeten oder am Vorbau sitzend und rauchend. Manchmal spricht er sogar mit ihm: Mäuschen, sagt er, mein liebes …
Nein, den Namen Gorin – «Pechvogel» – hat er wirklich nicht verdient, der Gauner. Wieso denn Pechvogel? Eher Glückspilz oder Sonntagskind. So oft hätte er schon verrecken können, doch jedes Mal ist er davongekommen. Die obdachlose Diebeskindheit, die Hungersnot der dreißiger Jahre, die Stalin’schen Lager und die Strafkompanie zu überleben – dafür braucht man schon eine besondere Begabung. Die Begabung zum Glück. Und die hat er zweifellos gehabt.
Er besaß übrigens noch eine zweite Begabung. Der Gauner konnte zeichnen. Wenn er sich nicht gerade ums Fressen kümmern musste, setzte er sich mit einem Fetzen Papier in die Ecke und zeichnete stundenlang Porträts von seinen elenden Kameraden im Kinderheim. Oder er wanderte über die Felder und zeichnete Landschaften. In solchen Momenten konnte er alles vergessen und hatte keine Sorgen mehr. Daher auch sein erster Spitzname – der Künstler. Zum Gauner wurde er erst später.
Dieses Talent bemerkte eines Tages ein Lehrer. Er kam auf den Markt, wo der Gauner versuchte, seine Reproduktionen der Schischkin’schen «Bären» zu verscherbeln, die ihm aus irgendeinem Grund besonders gut gelangen, blieb stehen und sah sich das an. Dann nahm er ihn mit in sein Atelier.
Das war der Wendepunkt im Leben des Gauners, sein größtes Glück. Wäre der Lehrer nicht gewesen, hätte er irgendwann auf die Kunst gepfiffen, hätte sich endgültig den Kriminellen angeschlossen und wäre in den Lagern versauert. Der Lehrer holte ihn aus der Herde heraus, nahm ihn wie einen Sohn bei sich auf. Brachte ihm etwas bei. Zeigte ihm, wie man Farben aufträgt, das Spiel von Schatten und Licht unterstreicht, sodass, was flach war,
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