Ein Tag wie ein Leben
würde?
Eigentlich war die Reaktion der beiden nur zu verständlich. Im Gegensatz zu Anna hatten sie uns in letzter Zeit nur selten zusammen
erlebt, und wenn, dann mehr als reserviert. Als Joseph an Weihnachten hier gewesen war, hatten Jane und ich kaum ein Wort miteinander gewechselt. Und bei Janes Besuch in New York vor einem knappen Jahr war ihre Stimmung auch völlig anders gewesen.
Ob es Jane wohl auch auffiel, dass unsere Kinder uns verstohlen
musterten? Ich glaube nicht - jedenfalls ließ sie sich nichts anmerken.
Sie erzählte Joseph und Leslie begeistert von den Hochzeitsvorbereitungen, und man merkte ihr an, wie stolz sie darauf war, dass alles so
hervorragend geklappt hatte. Leslie stellte hundert Fragen und geriet
bei jeder Anekdote in Verzückung. Joseph schwieg, hörte jedoch
ebenfalls sehr aufmerksam zu. Zwischendurch meldete sich Anna zu
Wort, meistens, um eine Frage zu beantworten. Sie saß neben mir,
und als Jane aufstand, um frischen Kaffee zu machen, blickte sie ihr
versonnen nach, nahm meine Hand und flüsterte mir ins Ohr: »Ich
kann’s kaum erwarten!«
Die weiblichen Familienmitglieder hatten um ein Uhr einen Friseurtermin. Als sie aufbrachen, redeten sie alle durcheinander wie
aufgeregte Schulmädchen. Mich hatten im Laufe des Vormittags
sowohl John Peterson als auch Henry MacDonald angerufen und
gefragt, ob ich mich noch einmal kurz mit ihnen treffen könne, am
besten in Noahs Haus. Peterson hatte vor, den Klang des Klaviers
auszuprobieren, während MacDonald die Küche und die Tische ganz
genau inspizieren wollte, um beim Dinner für einen reibungslosen
Ablauf sorgen zu können. Beide Männer versprachen, nicht zu viel
von meiner Zeit in Anspruch zu nehmen, aber ich versicherte ihnen,
es gebe keinen Grund zur Eile - zumal ich sowieso noch einmal zum
Haus fahren musste. Ich wollte etwas hinbringen, was noch in Leslies Kofferraum lag.
Als ich gerade aufbrechen wollte, kam Joseph zu mir ins Wohnzimmer.
»Hey, Pop. Hast du was dagegen, wenn ich mitkomme?«
»Nein, im Gegenteil.«
Während der Fahrt schaute Joseph wie gebannt aus dem Fenster,
sagte aber kaum ein Wort. Er war seit Jahren nicht mehr in Noahs
Haus gewesen und wollte nun die Landschaft auf sich wirken lassen,
die gewundenen, von Bäumen gesäumten Straßen. New York City
war ein aufregendes Pflaster, und Joseph fühlte sich dort zu Hause -
aber ich spürte, dass ihm bewusst wurde, wie traumhaft schön die
Gegend hier war.
Ich drosselte das Tempo, bog in die Zufahrt ein und parkte an demselben Platz wie immer. Als wir ausstiegen, blieb Joseph einen Moment lang wie angewurzelt stehen. Das Haus leuchtete in der Sommersonne. In ein paar Stunden würden sich Anna, Leslie und Jane im
oberen Stockwerk für die Hochzeit ankleiden. Die »Prozession«, wie
man hier sagte, sollte vom Haus ausgehen. Nachdenklich schaute ich
zu den Fenstern hinauf. So ganz konnte ich mir diese entscheidende
Phase der Hochzeit, wenn alle Gäste schon auf ihren Plätzen saßen
und warteten, noch nicht vorstellen.
Aber ich musste meine Tagträumereien abschütteln. Joseph wanderte schon in Richtung Zelt. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben, sein Blick schweifte über das ganze Gelände. Am Zelteingang blieb er stehen und schaute sich suchend nach mir um.
Wir gingen schweigend durch das Zelt und durch den Rosengarten,
dann betraten wir das Haus. Joseph ließ sich zwar nichts anmerken,
aber er war mindestens so beeindruckt wie Leslie und Anna. Nachdem er alles gesehen hatte, wollte er wissen, wie wir es in so kurzer
Zeit geschafft hatten, das Haus in diesen Zustand zu versetzen, jedes
organisatorische Detail interessierte ihn, doch dann verstummte er
wieder.
»Und? Wie findest du’s?«, fragte ich ihn.
Er antwortete nicht sofort, aber um seine Mundwinkel spielte ein
Lächeln. »Ehrlich gesagt - ich hätte nicht gedacht, dass du es
schaffst!«
Ich wusste ja am besten, wie Haus und Garten noch vor ein paar
Tagen ausgesehen hatten - deshalb staunte ich im Grund am allermeisten über das Ergebnis. »Schon verrückt«, murmelte ich.
Aber Joseph schüttelte den Kopf. »Ich meine nicht nur das Haus
und das alles hier«, sagte er. »Ich rede von Mom.« Er suchte meinen
Blick, um sich zu versichern, dass ich ihm auch wirklich zuhörte.
»Als sie letztes Jahr zu mir nach New York kam, ging es ihr extrem
schlecht. Ich war ganz erschrocken, als ich sie abholte. Schon bei der
Ankunft am Flughafen ist sie in Tränen ausgebrochen.
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