Ein Tag wie ein Leben
wir jedes einzelne Gedicht bestimmt tausend Mal gelesen. Manchmal, wenn ich eins vortrug, habe
ich zu Mom hinübergeschaut, und sie hat die Lippen genauso bewegt
wie ich. Nach einer Weile konnte sie sämtliche Gedichte auswendig.«
Er starrte aus dem Fenster. Sicher dachte er wieder an den Schwan.
»Aber jetzt«, fuhr er fort, »jetzt kann ich die Buchstaben nicht mehr
richtig erkennen, und der Gedanke, dass niemand je wieder in diesem
Buch lesen wird, ist für mich ganz furchtbar. Ich möchte nicht, dass
es eine Reliquie wird, die nur im Regal steht. Ich weiß, ihr liebt
Whitman nicht so leidenschaftlich wie ich, aber ihr seid die einzigen
von meinen Kindern, die seine Gedichte kennen. Und wer weiß -
kann ja sein, dass ihr sie noch einmal lest.«
Jane betrachtete das Buch. »Ich werde sie ganz bestimmt lesen«,
versprach sie.
»Ich auch.«
»Ich weiß«, sagte Noah und schaute uns eindringlich an. »Deshalb
wollte ich, dass ihr das Buch bekommt.«
Nachdem er etwas gegessen hatte, brauchte Noah dann doch etwas
Ruhe, also fuhren Jane und ich wieder nach Hause.
Anna und Keith kamen am Nachmittag, fünf Minuten nach ihnen
bog Leslie in die Zufahrt ein. Wir standen alle in der Küche, redeten
und lachten, ganz wie früher. Zwar wurde auch der verschwundene
Schwan erwähnt, jedoch nur beiläufig. Schließlich fuhren wir mit
zwei Autos zu Noahs Haus. Anna, Keith und Leslie waren überwältigt, vor Staunen blieb ihnen der Mund offen stehen. Während sie
durchs Haus gingen, wartete ich unten an der Treppe. Jane trat zu
mir, und als sie mir zuzwinkerte, musste ich lachen. Leslie, die gerade die Treppe herunterkam, wollte wissen, was so lustig sei, aber
Jane zuckte die Achseln.
»Das verstehen nur dein Vater und ich. Ein Scherz für Eingeweihte,
sozusagen.«
Auf der Heimfahrt holten Jane und ich Joseph am Flughafen ab. Er
begrüßte mich wie immer mit »Hey, Pop!«, um dann anerkennend
hinzuzufügen: »Du hast abgenommen!« Als wäre mein Gewicht im
Moment ein Thema… Gemeinsam mit ihm holten wir Noah in
Creekside ab. Wie immer war Joseph in meiner Gegenwart recht
schweigsam, aber sobald er Noah sah, blühte er auf. Noah merkte
man ebenfalls an, wie sehr er sich freute, seinen Enkel zu sehen. Die
beiden saßen auf der Rückbank und unterhielten sich angeregt. Zu
Hause wurden sie schon an der Tür stürmisch begrüßt, und bald saß
Noah auf der Couch, rechts von ihm Leslie, links Joseph, und die
drei erzählten eine Geschichte nach der anderen, während Anna und
Jane sich in der Küche unterhielten. Wie schön es doch war, dass
wieder vertraute Stimmen das Haus erfüllten! Ach, wenn es doch
immer so sein könnte…
Beim Abendessen wurde viel und laut gelacht, als Anna und Jane
ausführlich von der verrückten Hektik der vergangenen Woche berichteten. Und gegen Ende der Mahlzeit überraschte Anna uns damit,
dass sie gegen ihr Glas klopfte.
Alle verstummten, und sie begann:
»Ich möchte gern einen Toast auf Mom und Dad ausbringen«, verkündete sie und hob ihr Glas. »Ohne euch zwei wäre das alles hier
gar nicht möglich. Das wird die tollste Hochzeit, die man sich nur
vorstellen kann.«
Noah war müde, und ich brachte ihn zurück nach Creekside. Die
Flure im Heim waren bereits menschenleer, als ich ihn zu seinem
Zimmer begleitete.
»Ich möchte mich noch einmal für das Buch bedanken«, sagte ich
vor seiner Tür. »Ein schöneres Geschenk hättest du uns überhaupt
nicht machen können.«
Seine Augen, deren Linsen vom grauen Star etwas eingetrübt waren, schienen durch mich hindurch zu blicken. »Gern geschehen.«
Ich räusperte mich. »Vielleicht ist sie ja morgen früh wieder da.«
Da er wusste, dass ich es gut meinte, nickte er mit einem traurigen
Lächeln. »Ja, vielleicht.«
Als ich nach Hause kam, saßen Joseph, Leslie und Anna immer
noch am Tisch und unterhielten sich. Keith habe sich vor ein paar
Minuten verabschiedet, sagten sie mir, und auf meine Frage, wo ihre
Mutter abgeblieben sei, deuteten sie zum Deck. Leise öffnete ich die
Schiebetür. Jane lehnte am Geländer. Ich trat zu ihr. Eine ganze Weile lang standen wir schweigend nebeneinander und atmeten die frische Sommerluft ein.
»Wie geht es ihm jetzt?«, fragte Jane schließlich.
»Ich denke, den Umständen entsprechend gut. Er war allerdings
ziemlich erschöpft.«
»Meinst du, der Abend hat ihm gut getan?«
»Ganz bestimmt. Er ist unheimlich gern mit seinen Enkelkindern
zusammen.«
Sie schaute nach drinnen. Was für eine
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