Ein Tag wie ein Leben
Hast du das
gewusst?«
Meine betroffene Miene war Antwort genug.
Joseph vergrub die Hände noch tiefer in den Taschen und senkte
den Blick, um mich nicht ansehen zu müssen. »Sie hat gesagt, sie
will nicht, dass du sie in dieser Verfassung siehst, deshalb hätte sie
sich zu Hause zusammengerissen, aber im Flugzeug - ich glaube, da
sind dann einfach alle Dämme gebrochen.« Er machte eine Pause.
»Sie hat ausgesehen, als käme sie direkt von einem Begräbnis. Bei
meiner Arbeit bin ich ständig mit Schmerz und Trauer konfrontiert,
aber wenn es die eigene Mutter betrifft…«
Joseph schwieg, und ich war klug genug, keinen Kommentar abzugeben.
»Am ersten Abend konnte sie überhaupt nicht einschlafen, sie wollte mit mir reden und hat mir unter Tränen erzählt, was zwischen euch
los ist. Und ich muss sagen - ich war ganz schön wütend auf dich.
Nicht nur, weil du den Hochzeitstag vergessen hast. Nein, überhaupt
und allgemein. Ich hatte das Gefühl, unsere Familie ist für dich
nichts als ein netter Zeitvertreib und du kümmerst dich nur um uns,
weil andere Leute es von dir erwarten. Ich habe zu Mom gesagt,
wenn sie dermaßen unglücklich ist, wäre es vielleicht besser, wenn
sie versuchen würde, allein zu leben.«
Was sollte ich dazu sagen?
»Mom ist eine tolle Frau, Pop«, fuhr Joseph fort. »Ich wollte nicht
länger mit ansehen, wie sie leidet. Nach ein paar Tagen ging es ihr
besser - jedenfalls ein bisschen. Aber der Gedanke, wieder nach
Hause zu fahren, hat ihr richtig Angst gemacht. Ihr Gesicht wurde
immer ganz traurig, wenn wir darüber sprachen. Schließlich habe ich
sie direkt gefragt, ob sie lieber bei mir in New York bleiben würde.
Eine Weile dachte ich, sie nimmt das Angebot an, aber dann hat sie
gesagt, sie würde es nicht übers Herz bringen. Du brauchst sie, hat
sie gesagt.«
Mir wurde immer elender zumute.
»Als du mir erzählt hast, was du für euren Hochzeitstag planst, war
meine spontane Reaktion: Damit will ich nichts zu tun haben. Ich
habe mich nicht besonders darauf gefreut, hierher zukommen, ehrlich
gesagt. Aber gestern Abend…« Staunend schüttelte er den Kopf.
»Du hättest sie hören sollen, als du Noah nach Hause gebracht hast!
Sie hat nonstop über dich geredet. Wie toll du dich verhalten hast
und wie gut ihr euch in letzter Zeit verstanden habt und so weiter und
so fort. Und dann, als ich sah, wie ihr euch auf dem Deck geküsst
habt…«
Mit ungläubiger Miene betrachtete mich mein Sohn, als würde er
mich das erste Mal richtig wahrnehmen. »Du hast es geschafft, Pop.
Ich weiß nicht, wie du es gemacht hast, aber ich habe Mom noch nie
so glücklich erlebt, glaube ich.«
Pünktlich auf die Minute trafen Peterson und Mac-Donald ein, und
wie versprochen, waren die Probleme im Handumdrehen abgewickelt. Ich brachte noch schnell das Paket aus Leslies Kofferraum
nach oben. Auf dem Rückweg hielten wir vor dem Geschäft, wo man
Smokings ausleihen konnte, und borgten einen für Joseph und einen
für Noah. Ich setzte Joseph zu Hause ab und fuhr ohne ihn weiter
nach Creekside, weil er vor den Feierlichkeiten auch noch etwas
Wichtiges zu erledigen hatte.
Noah saß in seinem Sessel. Die Nachmittagssonne schien durch das
Fenster, und als er sich umdrehte, um mich zu begrüßen, wusste ich
sofort, dass der Schwan noch nicht zurückgekehrt war. Ich blieb im
Türrahmen stehen.
»Hallo, Noah.«
»Hallo, Wilson«, erwiderte er kaum hörbar. Er sah aus, als wäre er
über Nacht um Jahre gealtert.
»Wie geht’s denn so?«
»Könnte besser sein«, antwortete er. »Könnte aber auch wesentlich
schlechter sein.«
Er zwang sich zu einem Lächeln, als müsste er mich damit beschwichtigen.
»Können wir los?«
»Ja, klar.« Er nickte. »Ich bin so weit.«
Während der Fahrt verlor er kein Wort über den Schwan. Stattdessen starrte er nur aus dem Fenster, genau wie Joseph zuvor. Ich überließ ihn seinen Grübeleien. Doch trotz der gedrückten Stimmung
wuchs meine Vorfreude, je näher wir zum Haus kamen. Ich konnte
es kaum erwarten, Noah alles zu zeigen! Er vermochte besser als alle
anderen einzuschätzen, welches Wunder da vollbracht worden war.
Komischerweise reagierte er überhaupt nicht, als er ausstieg. Er
schaute sich nur wortlos um und zuckte dann die Achseln.
»Ich dachte, du hättest das Haus wieder in Ordnung gebracht«, sagte er.
Ich stutzte. Hatte ich richtig gehört?
»Ja, hab ich auch.«
»Was genau?«
»Alles! Komm, ich zeige dir den Rosengarten.«
Er
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