Ein Tag wie ein Leben
Der
Hund war wie erstarrt. Ich durfte ihn auf keinen Fall noch mehr einschüchtern, also wartete ich immer eine Weile lang, bis ich mich
wieder bewegte. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, aber schließlich war
ich so nahe an ihm dran, dass ich ihn fast berühren konnte. Ich hielt
ihm meine Hand hin, er hob den Kopf und schnupperte an meinen
Fingerspitzen. Offenbar kam er zu dem Schluss, dass er von mir
nichts zu befürchten hatte, und leckte kurz über meine Hand. Dann
gestattete er mir sogar, ihm über den Kopf zu streichen. Ich blickte
über die Schulter zu Jane.
»Er mag dich«, sagte sie fast verwundert.
Ich zuckte die Achseln. »Sieht so aus.«
Jetzt konnte ich die Telefonnummer auf seinem Halsband lesen. Jane rannte in die Buchhandlung nebenan, um von dem dortigen Münzfernsprecher den Besitzer anzurufen. Ich blieb solange bei dem
Hund, und je mehr ich ihn streichelte, desto besser schien es ihm zu
gefallen. Als Jane zurückkam, mussten wir noch eine gute Viertelstunde ausharren, bis »Herrchen« erschien. Der Besitzer war Mitte
dreißig und sprang regelrecht aus seinem Auto. Der Hund schoss ihm
freudig schwanzwedelnd entgegen. Der Mann begrüßte ihn herzlich
und wandte sich dann uns zu.
»Vielen, vielen Dank, dass Sie mich benachrichtigt haben!«, sagte
er. »Seit einer Woche haben wir ihn verzweifelt gesucht, mein kleiner Sohn hat sich jeden Abend vor Kummer in den Schlaf geweint.
Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr er seinen Spielkameraden
vermisst! Auf seinem Wunschzettel stand nur eine einzige Bitte: dass
er seinen Hund wiederhaben möchte.«
Er bot uns einen großzügigen Finderlohn, aber wir lehnten beide
höflich ab - wir wollten kein Geld für unsere Hilfe. Also bedankte er
sich noch einmal überschwänglich und brauste davon. Wir schauten
dem Wagen nach, erfüllt von dem beglückenden Gefühl, eine gute
Tat getan zu haben. Jane hakte sich bei mir unter.
»Meinst du, der Tisch ist noch reserviert?«, fragte sie.
Ich schaute auf die Uhr. »Wir sind eine halbe Stunde zu spät dran.«
»Aber eigentlich müssten sie unseren Tisch so lange freihalten.«
»Keine Ahnung. Es war schon ziemlich schwierig, überhaupt einen
zu bekommen. Ich musste einen meiner Professoren bitten, für mich
anzurufen.«
»Vielleicht haben wir ja Glück.«
Aber wir hatten kein Glück, unser Tisch war schon besetzt, und der
nächste wurde erst um Viertel vor zehn frei. Jane sah mich an.
»Wenigstens haben wir ein Kind glücklich gemacht«, sagte sie
seufzend.
»Das stimmt«, pflichtete ich ihr bei. »Und ich würde es jederzeit
wieder tun.«
Sie drückte meinen Arm. »Ich bin so froh, dass wir uns um den
Hund gekümmert haben - selbst wenn wir deswegen jetzt nicht hier
essen können.«
Das Licht der Straßenlampe umgab sie wie ein Heiligenschein - sie
erinnerte fast an eine überirdische Erscheinung.
»Möchtest du gern woanders hingehen?«, fragte ich sie.
Sie legte den Kopf schief. »Hörst du gern Musik?«
Zehn Minuten später saßen wir in der Pizzeria, an der wir kurz zuvor vorbeigekommen waren. Ich hatte mir ein erlesenes Dinner mit
Wein und Kerzenlicht ausgemalt - und nun bestellten wir Pizza mit
Bier.
Jane schien alles andere als enttäuscht zu sein. Munter erzählte sie
von ihren Seminaren über griechische Mythologie und englische Literatur, von ihren anderen Veranstaltungen am Meredith College,
von ihren Freundinnen und überhaupt von allem Möglichen, was ihr
so in den Sinn kam. Ich nickte meistens nur oder fragte mal kurz
nach. Auf diese Weise redete sie die nächsten beiden Stunden ohne
peinliche Pausen, und ich muss gestehen, dass ich in meinem ganzen
Leben noch nie mit jemandem so gern zusammen war.
Nun, über dreißig Jahre später, standen wir also in unserer gemeinsamen Küche, und ich merkte, dass Jane mich neugierig musterte.
Schnell schob ich meine Erinnerungen beiseite, würzte die Fleischsauce noch einmal nach, schmeckte sie ab und trug alles ins Esszimmer. Wir setzten uns an den Tisch, und ich sprach mit gesenktem
Kopf ein kurzes Tischgebet, in dem ich Gott für die guten Gaben
dankte, die wir von ihm empfangen hatten.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Jane, während sie sich Salat nahm.
»Vorhin hatte ich das Gefühl, du bist mit deinen Gedanken ganz weit
weg.«
Ich goss uns beiden ein Glas Wein ein, ehe ich wahrheitsgemäß
antwortete: »War ich auch - ich habe an unsere erste Verabredung
gedacht.«
»Tatsächlich?« Vor Staunen vergaß sie, die Gabel zum Mund
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