Ein Tag wie ein Leben
Eventualitäten gefasst.
In der angespannten Stille glaubte ich meinen eigenen Herzschlag
zu hören und hatte Mühe zu schlucken, weil mein Mund völlig ausgetrocknet war.
Da sah ich, dass hinter dem Anmeldungsschalter niemand mehr
saß. Hoffentlich ist die Schwester jetzt bei Noah!, dachte ich. In dem
Moment kam Jane auf mich zu. Ich stand auf und schloss sie tröstend
in die Arme, sodass sie sich an mich anlehnen konnte.
»Das ist alles so entsetzlich«, flüsterte sie.
Ein junges Paar mit drei weinenden Kindern kam in den Warteraum. Wir mussten ein Stück beiseite treten, damit sie an uns vorbei
konnten. Sie strebten zur Anmeldung, und gerade noch rechtzeitig
erschien die Schwester wieder. Sie gab der jungen Familie zu verstehen, sie müsse sich noch einen Moment gedulden, und wandte sich
uns zu.
»Er ist jetzt wieder bei Bewusstsein«, berichtete sie. »Aber er fühlt
sich noch recht schwach. Seine Vitalzeichen sind in Ordnung. Wir
werden ihn vermutlich in Kürze auf die Station verlegen - etwa in
einer Stunde.«
»Heißt das, er wird wieder gesund?«
»Die Ärzte haben jedenfalls nicht angeordnet, ihn auf die Intensivstation zu bringen - wenn Sie das meinen«, erwiderte sie diplomatisch. »Er muss nur ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus
bleiben.«
Alle atmeten erleichtert auf.
»Dürfen wir ihn sehen?«, fragte Jane drängend.
»Sie können leider nicht alle auf einmal zu ihm, dafür ist einfach
nicht genug Platz. Und der Arzt sagte, Mr. Calhoun brauche jetzt vor
allem Ruhe. Einer von Ihnen kann mit nach hinten kommen und ihm
einen Besuch abstatten - aber nicht zu lange.«
Eigentlich kamen dafür nur Kate oder Jane infrage, aber ehe jemand etwas sagen konnte, fragte die Schwester:
»Wer von Ihnen ist Wilson Lewis?«
»Ich!«, meldete ich mich.
»Folgen Sie mir bitte zum Behandlungszimmer. Er soll jetzt an einen Tropf gehängt werden, und am besten sprechen Sie mit ihm, ehe
er schläfrig wird.«
Die anderen Familienmitglieder starrten mich an. Ich konnte mir
denken, warum Noah ausgerechnet mich sehen wollte, hob aber abwehrend die Hände.
»Ich bin zwar derjenige, der vorhin mit Ihnen gesprochen hat - aber
vielleicht sollten lieber Jane oder Kate zu ihrem Vater gehen«, sagte
ich. »Sie sind seine Töchter. Oder wie wär’s mit David oder Jeff?«
Die Schwester schüttelte den Kopf.
»Er hat ausdrücklich gesagt, dass er Sie als Ersten sehen will.«
Jane lächelte, und ich glaubte, in ihrem Lächeln das zu entdecken,
was ich auch bei den anderen spürte: Verwunderung. Aber bei Jane
hatte ich außerdem den Eindruck, dass sie sich irgendwie betrogen
fühlte - als wüsste sie genau, warum ihr Vater mich ausgewählt hatte.
Noah lag reglos da, mit Schläuchen in den Armen und an Maschinen angeschlossen, die den regelmäßigen Rhythmus seines Herzens
aufzeichneten. Seine Augen waren halb geschlossen, aber als die
Schwester den Vorhang hinter uns zuzog und sich ihre Schritte entfernten, drehte er den Kopf. Jetzt konnten wir unter vier Augen reden.
Noah wirkte in dem großen Bett sehr zerbrechlich. Sein Gesicht
war ganz weiß. Ich nahm auf dem Stuhl neben ihm Platz.
»Hallo, Noah.«
»Hallo, Wilson«, sagte er mit zittriger Stimme. »Danke, dass du
mich besuchst.«
»Wie geht’s denn so?«
»Könnte besser sein«, antwortete er, und auf seinem Gesicht erschien ein schwaches Lächeln. »Könnte aber auch wesentlich
schlechter sein.«
Ich nahm seine Hand. »Erzähl mir, was passiert ist.«
»Eine Wurzel«, erwiderte er. »Ich bin schon mindestens tausend
Mal ohne Probleme an ihr vorbeigekommen. Aber plötzlich hat sie
nach meinem Fuß geschnappt.«
»Bist du mit dem Kopf aufgeschlagen?«
»Mit dem Kopf, mit dem Körper, mit allem. Bin hingeplumpst wie
ein alter Kartoffelsack. Aber gebrochen hab ich mir zum Glück
nichts. Mir ist nur immer noch etwas schwindelig. Der Arzt hat gesagt, in ein paar Tagen bin ich wieder auf den Beinen. Woraufhin ich
geantwortet habe, ausgezeichnet, am Wochenende muss ich nämlich
zu einer Hochzeit.«
»Mach dir bitte deswegen keine Gedanken. Du musst jetzt vor allem an dich selbst denken und daran, dass du wieder gesund wirst.«
»Ach, das wird schon wieder. Ich glaube, ich hab noch ein bisschen
Zeit.«
»Das will ich doch hoffen!«
»Wie geht es Kate und Jane? Ich wette, sie sind völlig aus dem
Häuschen.«
»Wir machen uns alle große Sorgen um dich.«
»Ja, aber du schaust mich nicht mit diesen bekümmerten Rehaugen
an und brichst auch nicht sofort
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