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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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war sein gutes Recht. Man verstand diese Art von Schamgefühl. Aber man kannte die Wahrheit, ganz einfach. Und über diese Wahrheit zerbrach man sich nicht den Kopf. Es kam vor, daß man Alfreds verschwundene Frau vorbeigehen sah, im Dorf, auf dem Marktplatz – selten. Man grüßte sie, ohne stehenzubleiben, das war alles.
    »Antwortet sie dann?« fragte Herman.
    Nein, natürlich antworte sie nicht. Ob Herman denn nicht verstanden habe, wunderte sich der Bürgermeister, daß er von Erscheinungen spreche undnicht von Personen? Von sichtbaren, anmutigen Seelen, nicht von Körper und Geist?
    Herman lachte auf. Dann folgte eine verlegene Stille. Obwohl ihn diese Ausführungen über Fragen, die normalerweise ohne Erklärung auskamen, offensichtlich langweilten, schien der Bürgermeister höflich alles an Herman weitergeben zu wollen, was er wußte, ganz so, dachte Herman, als müsse er in seiner neuen Eigenschaft als Dorfbewohner aufgeklärt werden.
    »Und aus welchem Grund geschehen diese Dinge?« fragte Herman demütig.
    Vor Befriedigung hellten sich die fast durchsichtigen Augen des Bürgermeisters kurzzeitig noch weiter auf. Er könne in diesem Punkt zwar keine Gewißheit behaupten. Doch seine Meinung sei folgende: In den Fällen, die ihm am besten bekannt waren, zu denen Hermans Fall noch nicht gehörte, hatte wahrscheinlich einer der Ehepartner zum Zeitpunkt der Rückkehr nach Paris, am einunddreißigsten August, einen unüberwindlichen Widerwillen dagegen verspürt. Unter irgendeinem Vorwand hatte dieser sich dann vom Haus entfernt, war in die Landschaft gelaufen oder ins Dorf hinunter, in der wohl recht unklaren Hoffnung, es werde irgend etwas passieren, was die Heimreise verhindern würde. Seine Not in diesem Augenblick, so dachte der Bürgermeister, mußte unermeßlich sein.Und dann geschah es, daß man ihn erst einige Zeit später wiedersah, in jener schemenhaften Gestalt, in der Herman Alfreds Frau sah, und vor allem für immer ans Dorf gebunden. Der zurückgelassene Partner blieb in der Regel da. Manche waren heimgekehrt, aber niemals ging die eigensinnige Seele zurück nach Paris. Sie nistete sich im Dorf oder in irgendeinem ruhigen Winkel auf der Anhöhe ein, zeigte sich oder zeigte sich nicht. Diese Wesen hatten verschiedene Charaktere. Sie störten niemanden – ja, man mochte sie gern. Warum sollte man über sie, die so unaufdringlich waren, reden? Der Bürgermeister versicherte, man vergesse sie, so wie man den Regen, die Steine und die Gräser auf den Wegen vergaß.
    »Ist der Grund wirklich«, fragte Herman, »daß sie von einem plötzlichen Ekel vor Paris befallen wurden? Und warum?«
    »Das weiß ich nicht, ich kenne Paris nicht«, antwortete der Bürgermeister.
    Er fügte hinzu, dieser Abscheu vor Paris und der Wunsch, nicht dorthin zurückzugehen, so stark, daß sie die von diesem Dorfweh, wie er es nannte, befallenen Menschen in bloße Erscheinungen verwandelten, finde sich oft auch beim anderen Partner wieder, ohne daß es ihm bewußt wäre; dieser verspüre einen ähnlichen Abscheu und Wunsch, nur etwas wenigerstark, so daß er sich sehr gut auf die neue Situation einstellen könne und, wie Alfred, nicht einmal mehr in Betracht zöge, etwas daran zu ändern. Wer weiß, fuhr der Bürgermeister mit einem schlauen Lächeln fort, ob Alfred nicht darauf hingearbeitet habe, daß das Übel eines Tages seine Frau befiel, weil er vielleicht selbst nicht genug Mut und Willenskraft hatte, um in diesen Schwebezustand überzugehen? Aber die Seelen seien glücklich, das erlaube sich der Bürgermeister Herman zu versichern. Sie bekamen das, wonach sie sich gesehnt hatten, solange sie in der pragmatischen Welt gefangen waren: das ewige, friedliche Leben im Dorf, die Erfahrung der kalten Jahreszeit fern von Paris und des so besänftigenden Dauerregens. Munter fragte der Bürgermeister: »Haben Sie bemerkt, Monsieur Herman, daß man nicht einmal mehr die Hügel sieht? Vom achten oder neunten September an verschwindet der Horizont, alles ist grau, wir sind ganz unten, im tiefsten Loch!«
    Da Herman lächelte, ohne zu antworten, fügte er abschließend hinzu, nun könne man, wenn es Herman interessiere, nur noch warten, bis die gleitenden, fühllosen Gestalten von Rose und dem Jungen erschienen, die allerdings genausogut verborgen bleiben könnten. Dann sagte er noch, er meine in Herman einen Ehemann zu erahnen, der nicht zurückgehen werde.
    »Oh, das ist nicht sicher«, widersprach Herman kraftlos.
    Wenn dem

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