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Ein Tag, zwei Leben

Ein Tag, zwei Leben

Titel: Ein Tag, zwei Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Shirvington
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eine beinahe stumpfe Schere zu verwenden, war unmöglich. Nachdem ich eine Weile an meinem Oberschenkel herumgestochert und dabei jedes Mal zischend nach Luft geschnappt hatte, wenn ich versucht hatte, einen schnellen Schnitt zu machen, musste ich einsehen, dass die Schere nicht genug Wirkung erzielte.
    Aber ich konnte jetzt nicht aufgeben. Ich musste Gewissheit haben.
    Die Regeln hatten sich geändert. Zumindest glaubte ich das allmählich. Seit ich in Wellesley ohne gebrochenen Arm aufgewacht war, hatte ich nachgedacht. Hatte mich an all die Male erinnert, als ich mir vorgestellt hatte, wie es wäre, wenn das Körperliche nicht mit überwechseln würde. Ich erinnerte mich daran, wie Casey Tulin sich im ersten Highschool-Jahr die Pulsadern aufgeschnitten hatte, und während alle anderen getrauert hatten, hatte ich meinen Tagträumen nachgehangen. Wenn das Körperliche nicht mit überwechseln würde … vielleicht könnte ich dann …
    Ich war mit Caseys Entscheidung nicht einverstanden gewesen, aber meine Situation war eine vollkommen andere. Tief in meinem Inneren habe ich immer gespürt, dass sich die beiden Leben gegenseitig irgendwie entwerteten. Dass vielleicht das Ende des einen Lebens den Beginn meines ersten richtigen Lebens bedeuten würde. Davon hatte ich immer geträumt.
    So viele Jahre lang hatte ich mich abends in den Schlaf geweint. Verwirrt, verzweifelt, weil ich nicht wusste, weshalb ich anders war als alle anderen. Weil ich in keiner meiner Welten wirklich zu Hause war. Weil ich nicht wusste, wer ich eigentlich war …
    Wenn es eine Chance gab … Wenn ich es schaffen könnte, dass es nur eine von mir gab …
    Frustriert knurrte ich vor mich hin und ließ die Schere fallen. Damit ließe sich nichts Wesentliches ausrichten.
    Ich ging zur Rasierklinge über, heiße Tränen liefen mir über die Wangen. Wieder fing ich mit meinem rechten Oberschenkel an, entschied mich für dieselbe Stelle. Meine Hände zitterten, aber es gelang mir, ein paar saubere Schnitte in die Haut zu machen. Das Ergebnis war nicht gerade das, was ich mir vorgestellt hatte. Mit einem Einwegrasierer konnte man sich nur oberflächliche Schnitte zufügen: In meinem Fall drei – es war eine Dreifachklinge. Allerdings floss dabei eine Menge Blut. Sobald ich es mit Toilettenpapier abwischte und den Schnitt damit bedeckte, war es bereits durchgeweicht.
    Mehr Tränen flossen. Am liebsten hätte ich aufgehört und mir etwas anderes überlegt. Doch ich wusste, dass es keinen anderen Weg gab. Ich musste wissen, ob die Blut-Theorie stimmte; ob das, was meinem Körper in dieser Welt widerfuhr, nur diesen Körper betreffen würde und nicht meinen anderen. Weil ich wusste, dass dies vielleicht der Schlüssel zu einer Zukunft war, die ich wirklich wollte.
    Ich holte ein paarmal tief Luft und wartete, bis sich die Blutung an meinen Beinen verlangsamte. Dann bedeckte ich die Schnitte mit Pflastern und zog mir eine Jogginghose an.
    Ich öffnete meine Zimmertür einen Spalt. Kein Licht. Das Haus lag ruhig da. Ich machte die Tür gerade weit genug auf, damit ich hindurchschlüpfen konnte, ohne dass sie knarrte. Das Herz hämmerte mir in der Brust, während ich nach unten ging. Ich hatte das Gefühl, als wären jeder Schritt und jeder Atemzug so laut, dass jeden Augenblick Mom oder Dad aus ihrem Zimmer stürzen könnten und mich auf frischer Tat ertappen würden.
    Letztendlich dauerte es eine Weile, bis ich fand, was ich suchte. Jemand hatte es in die falsche Schublade geräumt. Ich schwitzte vor Angst, während ich es vorsichtig in das Gummiband seitlich an meiner Unterwäsche steckte und zurück in mein Zimmer schlich, und es dauerte ewig, bis meine Hände nicht mehr zitterten und sich mein Magen wieder einigermaßen beruhigt hatte.
    Als ich mich wieder im Griff hatte, konzentrierte ich mich auf meine Rippenbasis in der Hoffnung, dass es die richtige Entscheidung war. Ich nahm an, dass das eine der sichersten, diskretesten Stellen war. Bevor ich nicht mehr wusste, wollte ich keinen schrecklichen Fehler machen.
    Ich wollte schließlich nicht sterben …
    Im Gegenteil.
    Ich wollte leben .
    Ich nahm das Feuerzeug und versengte die Klinge des Filetiermessers, das ich gerade aus der Küche geholt hatte. Es war nicht das größte – aber oh, es war das schärfste Messer.
    Zu meiner Überraschung war es damit sehr viel leichter. Nach einigen Fehlversuchen konnte ich meine Hand dazu überreden, genug Druck auf das Messer auszuüben, um einen vernünftigen

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