Ein Tag, zwei Leben
seine Miene. » Fast wäre ich – und alle anderen auch – darauf hereingefallen.«
Meine Augenlider waren zu schwer. Ich glitt wieder davon. » Will eine Chance … wirklich zu leben«, murmelte ich.
Ethan sagte etwas, aber alles verschwamm. Ich verpasste es.
Als ich das nächste Mal meine Augen aufschlug, war ich wieder in meinem Zimmer. Das Erste, was mir auffiel, war, dass mein Schrank fast ganz ausgeräumt war. Nur ein paar Kleidungsstücke waren geblieben, die zusammengelegt auf einem Regal lagen.
Ich griff unter die Decke. Ich hatte wieder den Krankenhauskittel an. Ohne nachzusehen, wusste ich, dass meine Schmetterlingshalskette weg war. Wenigstens war ich nicht festgeschnallt.
Ich drehte den Kopf auf die andere Seite des Zimmers. Macie saß im Lehnstuhl, beobachtete mich, auf ihrem Schoß lag eine Zeitschrift.
Ich schluckte ein paarmal schmerzhaft, und sie wartete, bis ich mich wieder beruhigt hatte.
» Du hast dich heftig übergeben und irgendwann mussten sie dich intubieren. Hast du wirklich den Namen des Gegenmittels auf deine Hand geschrieben?«, fragte sie ungläubig.
Ich antwortete nicht und fragte stattdessen: » Wie spät ist es?«
Sie verdrehte die Augen. » Das ist alles, was du immer wissen willst.«
» Na ja, wenn Sie an meiner Stelle wären, dann stünde das auch ganz oben auf der Liste der Dinge, die Sie unbedingt wissen müssen.«
Sie starrte mich an, als wäre ich ein Rätsel, das sie nicht lösen wollte. Schließlich blickte sie auf ihre Uhr.
» Glückwunsch«, sagte sie spöttisch. » Du hast den ganzen Tag verschlafen. Es ist siebzehn Uhr.« Sie stand auf. » Ich teile Dr. Levi mit, dass du wach bist.«
Oh ja, sie hasste mich. Und wie. Ich hatte das Gefühl, dass das eher damit zu tun hatte, dass ich Mitch ins Gesicht getreten hatte, als mit sonst was. Wenn ich aus den Blicken, die sie einander zuwarfen, Schlüsse ziehen sollte, dann statteten Mitch und Macie regelmäßig der Abstellkammer heimliche Besuche ab.
Ich musste wohl wieder weggedriftet sein, denn als ich die Augen wieder aufschlug, stand Dr. Levi an meinem Bett und schrieb etwas auf sein Klemmbrett.
» Hallo, Sabine. Ein ereignisreicher Abend, wie ich gehört habe.«
Er begann, meine Vitalfunktionen zu überprüfen.
» Deine Wunden scheinen gut zu heilen. Wie geht es dir damit?«, fragte er in einem Tonfall, als würde er über das Wetter reden.
Mir fiel keine passende Antwort ein, deshalb wandte ich meine Aufmerksamkeit der offenen Tür zu. Eine Krankenschwester, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, stand im Flur und beobachtete uns.
Dr. Levi legte sein Klemmbrett weg. » Sabine, der diensthabende Arzt erwähnte, dass du etwas Deutsch gesprochen hast, als du gestern Nacht halb ohnmächtig warst, und dein Vater sagte, du hättest Ethan erzählt, dass du Französisch kannst. Stimmt es, dass du Fremdsprachen beherrschst?«
Das war keine große Überraschung. Ich wusste, dass ich mich mit den Folgen meiner Kapriolen würde herumschlagen müssen.
Ich seufzte. » Je ne parle pas allemand, mais je peux dire ce que vous voulez en français. Je le parle couramment depuis que j’ai cinq ans. Et vous avez quelque chose de vert entre les dents«, sagte ich, womit ich erklärte, dass ich eigentlich kein Deutsch konnte, aber fließend Französisch sprach, seit ich fünf Jahre alt war und … dass er etwas Grünes zwischen den Zähnen hatte. Diesen Zusatz hatte ich mir einfach nicht verkneifen können.
Dr. Levi musterte mich eingehend, und als ich fertig war, wandte er sich an die Krankenschwester im Flur.
Sie lächelte und schien kurz davor zu sein, loszulachen. Doch als sie Dr. Levi ansah, wurde sie wieder ernst und nickte.
Plötzlich wurde mir klar, warum.
Sie war gekommen, um zu bestätigen, was ich gesagt hatte. Sie sprach Französisch – oder konnte es zumindest gut genug, um sagen zu können, ob es echt war und nicht nur Kauderwelsch.
Dr. Levi nahm sich eine Moment Zeit, um die Krankenschwester zu verabschieden, und wandte sich dann wieder zu mir um. » Das ist beeindruckend, Sabine. Wie hast du dir selbst beigebracht, Französisch zu sprechen?«
» Ich habe es in der Schule gelernt.« Ich zuckte mit den Achseln. » Und ich hatte zu Hause einen Privatlehrer.«
» Hatte sie nicht!«, polterte es im Flur. Einen Moment später erschien mein Vater im Türrahmen. Ich zuckte zusammen. Ich hätte mir ja denken können, dass er sich da draußen versteckte und nur darauf wartete, zuzuschlagen.
» Wo hast du
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