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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Was, wenn sie bestätigen, dass ihre Mutter tot ist oder im Evin-Gefängnis schmachtet? Trotzdem hat Dr. Zohreh versucht, Saba für ihre Organisation zu gewinnen, indem sie ihr über Ponneh Bücher geschickt hat, die sie lesen soll, Fotos, die sie sich anschauen soll, und Geschichten, die ihr zu denken geben sollen. Einerseits freut sich Saba über die Aufmerksamkeit, die die Freundin ihrer Mutter ihr zukommen lässt, aber andererseits ist es für sie unvorstellbar, sich in eine solche Gefahr und Unsicherheit zu begeben. Sie blättert die Zeitungen aus der ganzen Welt durch, in denen Fotos abgedruckt sind, die Mitglieder von Dr. Zohrehs Gruppe aufgenommen haben. Diese Frauen kommen aus allen Gesellschaftsschichten, aus Städten überall um Teheran und im Shomal. Sie sind Christen, Bahai, Zoroastrier. Manche sind sogar Muslima. Dr. Zohreh ist Zoroastrierin – eine Anbeterin des Feuers.
Meine Mutter ist aus Feuer
, denkt Saba und sieht das Bild ihrer Mutter, der Aktivistin, vor sich, wie sie allein durch ihre Wut Tschadors in Flammen aufgehen lässt. Sie wünscht, sie hätte diesen Teil von ihr gesehen, den Teil, der alles andere als vernünftig war. Hat Saba auch ein bisschen davon im Blut?
    Abbas klopft an die Tür und sagt, dass er aus dem Haus geht. »Saba? Saba-dschan? Ich gehe jetzt. Möchtest du herauskommen und mich verabschieden?« Seit Monaten hat sie all seine flehenden Blicke ignoriert, sein klägliches Gemurmel und Geschlurfe durchs Haus, bei Tag und bei Nacht. Sie sagt nichts und hofft, dass ihr Schweigen seinen sterbenden Ohren wehtut. Wenn sie allein im Haus ist, wird sie ein bisschen über Amerika recherchieren, über eine mögliche Reise dorthin … für später. Sie muss sich einen handfesten nächsten Schritt überlegen, weil eine vernünftige Frau genau das tun würde. Vielleicht ist es an der Zeit, Dr. Zohreh doch mal einen Besuch abzustatten, nur um wirklich jede Information zu bekommen, die es vielleicht gibt – um Schluss mit der Angst zu machen und auf die ferne Stimme ihrer Mutter zu lauschen. Was kann die Ärztin denn jetzt noch sagen, das sie verletzen könnte? Vielleicht wird sie eine Antwort bekommen, etwas, an das sie sich klammern kann, während sie entscheidet, wie sie ihr Leben hier leben will.
    * * *
    Als sie den nötigen Mut gefasst und einen Plan gemacht hat, hält Saba in einer Hand eine mit Bleistift gezeichnete Karte und in der anderen das Lenkrad vom Wagen ihres Vaters, während sie über verschneite Straßen rollt. Bald gelangt sie auf die bergige Schnellstraße, die so viele Iraner benutzen, um sich im Sommer in satte grüne Wälder und frische Strandvillen zu flüchten und um im Winter zu den Skipisten zu gelangen. Ein Blick auf die Karte sagt ihr, dass sie die Qazvin-Rasht-Straße verlassen soll, die an sich schon kurvenreich und gefährlich ist, um eine Straße zu nehmen, auf der sich noch häufiger tödliche Lawinenunglücke ereignen. Sie schiebt den Tschador zurück, den sie außerhalb des Dorfes trägt, lässt die von ihrem Atem beschlagene Scheibe runter und beschleunigt über einen Streifen festgefahrenen Schnees. Die Fahrt ganz allein zu der Hütte in den Bergen gestaltet sich leichter, als sie gedacht hat. Ihr Vater verbringt den Tag damit, über weiß gefleckte Felder zu gehen und in den Büroräumen seines Freundes und Buchhalters Papierkram zu erledigen, daher wird er seinen Wagen nicht vermissen. Bislang waren die Straßen leer und ungefährlich. Saba entspannt sich, betrachtet die sich verändernde Landschaft – braune und orangegelbe Dünen und Felsen, mit Schnee bepudert, erstrecken sich am Horizont, gefolgt von frostweißen Bäumen, die den Berg hinaufweisen. Als Kind dachte Saba immer, alle Entfernungen könnten mit einem Teelöffel gemessen werden. Heute misst sie die Entfernung anhand des Benzins im Tank ihres Vaters. Vielleicht kann sie von nun an auch weitere Strecken allein bewältigen – Entfernungen, die von Meeren und Ozeanen gemessen werden, nicht von Teelöffeln und Benzintanks. In wenigen Monaten wird der Frühling den Gipfel des Berges erreichen, und Saba ist froh, dass sie jetzt noch die winterliche Jahreszeit erlebt.
    Sie hält auf einem flachen Bereich am Berghang an, knapp unterhalb des Plateaus, auf dem laut Dr. Zohreh die Hütte steht. Als Saba aussteigt, bemerkt sie sogleich ein kleines, würfelartiges Holzhaus in den Tarnfarben des Berges. Rohe braune Balken in einer Decke aus Weiß und Immergrün. Dieser Teil des Berges liegt

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