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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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nah am Meer. Sie kann es riechen, obwohl die Bäume die Sicht darauf versperren. Hinter einem Fenster ist eine Frau dabei, Tee zu kochen. Sie blickt auf und winkt Saba zu, ehe sie verschwindet, um die Tür zu öffnen.
    »Saba-dschan«, sagt sie mit ihrem Tabakkrächzen, während sie die Tür aufhält und Saba hereinwinkt. »Willkommen. Du siehst so erwachsen aus.« Dr. Zohreh ist groß und schlank, mit einem dunklen Gesicht und einem schwarzen, unbedeckten Bubikopf. Sie trägt eine elegante braune Hose, und ihr elfenbeinfarbener Pullover sieht aus, als käme er aus Amerika.
    »Danke«, sagt Saba. »Ich bin zwanzig.« Dann fühlt sie sich albern und befürchtet, einen dümmlichen ersten Eindruck gemacht zu haben. Die Luft in der Hütte wird von einem batteriebetriebenen Heizofen und von Kerosinlampen erwärmt. Es gibt einen Hauptraum, eine winzige Küche und ein Außenklosett hinter der Hütte. Saba setzt sich an einen großen Tisch mit Spitzendecke darauf und gibt Dr. Zohreh ihren Tschador, den die Ärztin kurzerhand hinter eine Kiste stopft – seltsam, denkt Saba und fragt sich neugierig, was wohl in dieser Kiste ist. Flugblätter? Briefe? Als der Teekessel pfeift, eilt die Ärztin in die Küche. Saba fährt sich mit einer kalten Hand durchs Haar und entwirrt mit den Fingern eine verknäuelte Strähne.
    Dr. Zohrehs Stimme treibt zusammen mit dem Duft warmen Honiggebäcks herüber. »Ich bin so froh, dass du gekommen bist.« Schon jetzt ist Saba von der Hütte bezaubert.
    »Ich auch«, sagt sie. Sie starrt aus dem Fenster, genießt die Stille ringsumher. Als Dr. Zohreh den Tee bringt, kommt ihr das fast wie ein Luxus vor, als würde sie eine neue Freundin in einem unbekannten Café treffen, um eine leichtsinnige Stunde zu verbringen. Keine lauten Mütter, die tratschen und Ratschläge erteilen. Keine Ponneh und kein Reza mit ihrem unausgesprochenen Dialog, der durch dicke Wolken von Haschischrauch dringt. Überhaupt keine Geschichte, was die Grundvoraussetzung für Frieden ist.
    »Erzähl mir von deinem Mann«, fordert Dr. Zohreh sie mit einem neutralen, psychoanalytischen Tonfall auf. Sie nimmt sich ein Stück
ghotab
-Gebäck und schiebt Saba den Teller hin. Diese sehr uniranische Geste – sich selbst zuerst zu bedienen – flößt Saba irgendwie größeres Vertrauen ein. Hier gibt es kein
tarof
, und Saba hasst gespielte Großzügigkeit, die letztlich eine Lüge ist. Sie nimmt sich ein Stück und merkt, dass es das gleiche Gebäck ist, das Ponneh in letzter Zeit mit in die Vorratskammer gebracht hat.
    »Er ist sehr alt«, antwortet Saba. Dann schiebt sie nach: »Ich hasse ihn.«
    Dr. Zohreh hört auf zu kauen und kneift die Augen zusammen. »Tut er dir weh?«, fragt sie ohne irgendwelche hö f lichen Umschweife. »Falls ja, solltest du mir das sagen, denke ich.«
    »Warum?« Saba versucht, ein ironisches Lächeln aufzusetzen. Aber anscheinend schafft sie es nur, traurig auszusehen, denn Dr. Zohreh greift über den Tisch und berührt ihre Hand. Sofort fürchtet Saba, zu viel gesagt zu haben, denn für ihre Zukunft ist es entscheidend, dass niemand die Mechanismen ihrer Ehe hinterfragt. Also sagt sie: »Er ist ein Feigling. Er bleibt mir vom Leib, wenn ich das will.« Und seit dem
dalak
-Tag stimmt das auch.
    »Weißt du, was deine Mutter mal zu mir gesagt hat … nach dem Unfall?«, sagt Dr. Zohreh. »Sie hat gesagt, falls ihr je etwas passieren würde, sollte ich dafür sorgen, dass du nicht zu besonnen und vernünftig wirst.« Sie schüttelt den Kopf und trinkt einen Schluck Tee. »Wie seltsam, einer Tochter in der heutigen Zeit so etwas zu sagen.«
    Ja, wie seltsam
, findet auch Saba. Bestimmt wäre ihre Mutter enttäuscht, wenn sie von ihren Entscheidungen erführe. Sie hat einen alten Mann um seines Geldes willen geheiratet. Hat ein Studium aufgeschoben, um sich um einen Mann zu kümmern, der kaum ein Wort Englisch lesen kann. Es besteht die erschreckende Möglichkeit, dass Saba ihr Leben lang dumme Entscheidungen getroffen hat. Aber kann Bahareh Hafezi sich ein Urteil darüber anmaßen? Ob sie nun fortgegangen ist oder wegen ihrer Aktivitäten verhaftet wurde, so oder so hat sie Saba im Stich gelassen, oder etwa nicht? Ihre Tochter blieb mutterseelenallein zurück und musste für sich selbst sorgen, oder etwa nicht? Und Saba hat beschlossen, sich auf diese Weise zu schützen – so wie ihre Ersatzmütter es sie gelehrt haben, und Khanom Hafezi hat kein Recht, ihre Meinung durch diese Fremde

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