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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Worte!
Ich strecke mich
, sagt Rumi,
auf dass du mich zerreißt.
    Versteht Saba das? Ich hoffe, dass sie es eines Tages versteht, und wenn auch nur für eine Nacht. Eine Stunde. Hat das Mädchen nicht schon genug gelitten? Vielleicht sollte sie einen Liebhaber haben, nur um diesen köstlichen Teil des Lebens kennenzulernen. Und damit Sie nicht meinen, ich hätte sündige Gedanken, will ich Ihnen sagen, dass es keine Sünde ist, ein Mensch zu sein. Als ich jung war, gab es vielerlei Wonnen, und Liebhaber waren wie Opiumkugeln auf dem Grund eines Gewürzglases – wenn man lang genug herumtastete, stieß man immer auf einen neuen.
    Kommen Sie mir nicht mit irgendwelchen Keuschheitsregeln. Solche Regeln wurden von jemand anderem gemacht als von Gott. Kommen Sie mir nicht mit Rührseligkeiten über wahre Liebe und Seelenverwandtschaft. Solche Rührseligkeiten sind was für Geschichtenerzähler. Das Leben ist nicht mehr als die kleinen Freuden vieler Augenblicke, die sich summieren wie die Münzen in einem Tschador. Wahrscheinlich gibt es in dieser Welt keine Liebe, bloß gesunden Menschenverstand und Anziehungskraft – die harmonische Entsprechung von Statur und Alter und Gerüchen. In meinen alten Augen ist das gemeint, wenn man von »gut zusammenpassen« spricht – keine Zauberei, bloß zwei Beine, zwei Arme und, wenn du Glück hast, ein junges und schönes Gesicht.

Tagebuchaufzeichnungen
    Dr. Zohreh
    I ch habe Verständnis dafür, dass Sabas Vater mich bat, Abstand zu halten, während sie heranwuchs. Die Gefahren für die Familie waren durchaus real. Und ich vermute, jetzt braucht sie mich nicht mehr, obwohl ich ihr schrecklich gern ein besseres Verständnis ihrer Mutter ermöglichen würde, um dem zweifellos negativen Bild entgegenzuwirken, das die Dorffrauen von ihr gezeichnet haben werden.
    Aber ich werde mich nicht aufdrängen. Das wäre ein Fehler, denke ich.
    Falls sich eine Gelegenheit ergibt, werde ich ihr beim nächsten Mal vielleicht erzählen, dass sie ihrer Mutter sehr ähnlich ist. Neulich habe ich bei Saba angerufen, und eine Haushälterin, eine Frau namens Omidi, berichtete mir, wie gern sie »Geschichten erzählt«. Natürlich gab mir das zu denken. Ich habe Fallstudien über Kinder gelesen, die eine Tragödie oder einen großen Verlust erlitten haben und fehlgedeutete Erinnerungen benutzen, um für sich selbst dauerhafte andere Realitäten zu erschaffen. Interessanterweise handelt es sich bei diesen Tragödien meistens um Fälle, an deren Verlauf sie irgendwie beteiligt waren – wie die Versuchspersonen in dem Milgram-Experiment, die sich, als man sie darüber aufklärte, was sie getan hatten, einredeten, sie hätten argumentiert oder widersprochen, während sie doch in Wahrheit gefügig gewesen waren. Doch warum sollte Saba solche Symptome entwickeln? Ich wünschte, ich könnte mit ihr reden oder hätte es getan, während sie heranwuchs.
    Nach dem Anruf fiel mir wieder ein, dass Bahareh früher etwas ganz Ähnliches gemacht hat. Während unseres Studiums hatte ich eine Beziehung zu einem jungen Mann, der unsere Verlobung später löste, um in London zu studieren – eine dürftige Ausrede, da auch ich für ein Semester ein Stipendium an einer englischen Universität bekommen hatte. Bahareh kam in mein Zimmer und erfand die ganze Nacht über irgendwelche Geschichten über die dümmlichen Patzer, die ihm dort unterlaufen würden. Sie stellte eine Liste auf. Erstens: Er wird die falsche Gabel benutzen. Zweitens: Er wird versuchen, einen Mann auf die Wange zu küssen. Drittens: Er wird blödsinnige Reden auf die Königin schwingen. Sie war einfach köstlich. Am nächsten Tag brachte sie mir eine Hochzeitstorte, die ich in den Fluss werfen sollte, als Symbol für … ach, ich hab vergessen, wofür.

Kapitel Elf
    Herbst–Winter 1990
    I n den vergangenen zwei Wochen hat Dr. Zohreh zweimal angerufen. Jedes Mal hat sie Saba mit ihrer heiseren Kettenraucherstimme versichert, dass sie zur Verfügung steht, falls Saba sie braucht. Saba hat nicht zurückgerufen, weil sie sich davor fürchtet, was die Ärztin wohl über ihre Mutter zu sagen hat. Ihre Briefe an das Evin-Gefängnis sind bislang unbeantwortet geblieben, und es ist ihr nicht gelungen, irgendwelche neuen Hinweise zu finden. Die Nachricht der Ärztin könnte ihre letzte Hoffnung sein, und sie ist noch nicht bereit dafür. Was, wenn die Informationen der Ärztin den alten, begrabenen Zorn auf ihre Mutter wiederbeleben, weil sie sie verlassen hat?

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